Aktuell: Denkanstöße

Jahreslosung 2014

Jahreslosung 2014

Psalm 73,28

Gottes Gärten

Garten

(Foto: Jörg Rustmeier) 

„Bin im Gar­ten…“ — einen sol­chen Hin­weis kle­ben wir an unse­re Haus­tür, wenn wir im Gar­ten sind. „Bin im Gar­ten…“ kann hei­ßen: gemüt­li­ches Sit­zen bei Kaf­fee und Kuchen? Oder doch beim Unkraut­jä­ten oder Rasen­mä­hen? Die Fül­le der Mög­lich­kei­ten macht neu­gie­rig. Man geht in den Gar­ten und sieht nach. Viel­leicht kön­nen wir uns dazu­set­zen, den Duft der Blu­men genie­ßen, ein gutes Gespräch füh­ren. Wer einen Gar­ten hat, der weiß aller­dings, dass vor dem Aus­ru­hen die Arbeit kommt. Wie auch immer — ich bin ger­ne im Gar­ten hin­ter dem Pfarr­haus in der Liebigstraße.
„Bin im Gar­ten…“ — die­ser Hin­weis hilft nicht nur Men­schen wei­ter, die jeman­den besu­chen wol­len. Er hilft auch Gott-Suchern. Denn wenn sie die Geschich­ten der Bibel lesen, kön­nen sie ent­de­cken, dass Gott oft im Gar­ten zu fin­den ist: Im Gar­ten Eden geht er umher und ruft: „Adam, wo bist du?“ Im Gelob­ten Land pflanzt Gott sein Volk wie einen Wein­berg und lässt es erblü­hen wie eine Lilie. Den Gar­ten der Lie­be erfüllt Gott mit wun­der­ba­ren Düf­ten und zeigt den Ver­lieb­ten die Schön­heit sei­ner Schöp­fung. Im Gar­ten Geth­se­ma­ne kämpft Jesus Chris­tus um sei­ne Lie­be zu den Men­schen. Im Fried­hofs­gar­ten begeg­net er Maria Mag­da­le­na als Gärt­ner ihrer See­le. Im Gar­ten des himm­li­schen Jeru­sa­lems am Strom des Lebens wohnt Gott bei den Men­schen und wischt alle Trä­nen von ihren Augen. Gott ist im Gar­ten — als Gärt­ner und in jedem Samen­korn, das auf­bricht, sich ver­wan­delt und her­an­wächst zu einem neu­en Leben. „Bin im Gar­ten… im Kei­men, Wach­sen und Blü­hen, im Ver­ge­hen und wie­der Auf­er­ste­hen!“ Der Gar­ten in der Bibel ist ein Gleich­nis für das Leben der Men­schen in der Gegen­wart Got­tes. Doch die Mensch­heit schafft es, der Schöp­fung das Leben schwer zu machen. Aber es gibt in der Bibel den Traum von einer Welt, wie sie sein könn­te: ein Ort der Schön­heit und des Frie­dens, der Frucht­bar­keit und des Heils und der inni­gen Ver­bun­den­heit alles Lebendigen.

Felix Fink­bei­ner scheint die­sem Traum näher zu kom­men. Er rief das Pro­jekt „Plant-for-the-Pla­net“ 2007 ins Leben, nach einem Schul­re­fe­rat. Er ent­wi­ckel­te die Visi­on, dass Kin­der in jedem Land der Erde eine Mil­li­on Bäu­me pflan­zen kön­nen. Jeder gepflanz­te Baum ent­zieht, bis er aus­ge­wach­sen ist, der Atmo­sphä­re etwa drei Ton­nen CO². Aus der Visi­on wur­de Wirk­lich­keit. Inzwi­schen sind zwölf Mil­li­ar­den Bäu­me gepflanzt. Ich habe Hoff­nung. Unser Schöp­fungs­gar­ten kann wie­der ein Ort der Schön­heit und des Frie­dens, der Frucht­bar­keit und des Heils und der inni­gen Ver­bun­den­heit alles Leben­di­gen werden.

Kat­ja Simon

Jahreslosung 2013

Jahreslosung 2013. Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Hebräer 13,14

Jah­res­lo­sung 2013 — Wir haben hier kei­ne blei­ben­de Stadt, son­dern die zukünf­ti­ge suchen wir (Hebrä­er 13,14)

Hagia Sophia, Istan­bul (Foto: Jörg Rustmeier)

Sommer

(Foto: Jörg Rustmeier)

Ich komm im Som­mer­wald daher
Und lau­sche sei­nem Weben –
Kein mensch­lich Schrei­ten trägt mich mehr,
Ein Wal­len ist’s und Schweben.

Ich bli­cke nie­der zur Blu­me ins Kraut,
Blick auf zur Sonn in die Höhe –
Wie aus dem Klei­nen das Gro­ße sich baut:
Gehei­ligt ist, was ich sehe!

Klar wird’s in mir und seherhell –
Wie mei­ne Sin­ne lauschen,
Klingt in mich ein, was leis der Quell,
Was Grä­ser und Bäu­me rauschen,

Hör ich das krei­sen­de Blut der Natur
Durch Erden und Wel­ten wallen,
Hör ich durch alle Kreatur
Den  e i n e n  Herz­schlag hallen.

Fer­di­nand Ernst Albert Ave­na­ri­us (1856–1923)
Aus der Samm­lung Jahrbuch

Wir wün­schen allen unse­ren Gäs­ten und Mit­ar­bei­te­rIn­nen schö­ne und erhol­sa­me Sommerferien.

Uni­ver­si­täts­kir­chen­ge­mein­de Marburg

Leben aus deiner Hand“

Gedanken zum Sonntag Septuagesimae

Wozu beten? Damit uns nichts selbst­ver­ständ­lich wird. Selbst­ver­ständ­lich ist nur das Nichts.“ So schreibt Kurt Mar­ti im hohen Alter. Einer, der weiß, wovon er spricht. Er hat sei­ne gelieb­te Lebens­part­ne­rin ver­lo­ren. Er nimmt den Abbau sei­ner geis­ti­gen und kör­per­li­chen Kräf­te wahr. Er kennt den bit­te­ren Gedan­ken, dass in die­ser Welt für ihn nichts mehr bleibt, was noch lohnt zu bleiben.

Doch mit­ten in der Nacht ent­steht die Sehn­sucht nach den ers­ten Anzei­chen der Mor­gen­rö­te. Hil­de Domin ermu­tigt: „Nicht müde wer­den, son­dern dem Wun­der lei­se wie einem Vogel die Hand hinhalten.“

Die Baum­knos­pe am kah­len Ast, die her­vor­bre­chen­den Licht­strah­len hin­ter den dunk­len Wol­ken, das Lächeln in einem frem­den Gesicht. Selbst­ver­ständ­lich ist das nicht. Die war­me Berüh­rung von einer Hand, die dir auf­hilft. Das fri­sche Brot, das dir jemand reicht. Ein Leben im Dia­log mit dem Leben, das dich umgibt.

Beten muss ich nicht ler­nen. Ich schlie­ße mei­ne Augen, fal­te mei­ne Hän­de oder stre­cke sie in den Him­mel. Ich hal­te inne oder gehe durch eine Land­schaft. Ich sin­ge oder wer­de still und tre­te ein in einen Raum, der mir näher ist, als ich mir selbst jemals kom­men kann.

Manch­mal for­mu­lie­re ich in Wor­ten, was mich bewegt. Das kann ein ein­fa­cher Ruf sein: Hilf mir! Oder: Wie lan­ge noch? Oft­mals bit­te ich: Steh mei­nem Nächs­ten bei, sel­te­ner: Sei auch bei dem, der mir fer­ne rückt. Hin und wie­der dan­ke ich für einen beson­de­ren Augenblick.

Beten kann so ein­fach sein und fällt doch zeit­wei­se so schwer. Wer nimmt wahr, was mich bewegt? Wird mein Anlie­gen über­haupt gehört? Fra­gen, die oft ohne Ant­wort bleiben.

Beten ist nicht selbst­ver­ständ­lich. Dar­um frag­ten die Jün­ger ihren Meis­ter: Was sol­len wir beten? Jesus ant­wor­te­te: „Wenn ihr betet, dann sprecht: Vater unser im Him­mel…“ Sei­ne Wor­te ver­bin­den Chris­tin­nen und Chris­ten über Zei­ten und Räu­me hin­weg. Ich bin nicht mehr allei­ne und darf mich mit ande­ren Men­schen zu Gott hin­wen­den so wie ein Kind bei der Mut­ter oder dem Vater Zuflucht sucht. Durch das Gebet Jesu kön­nen wir gemein­sam für das Wich­tigs­te in unse­rem Leben bit­ten. In der Mit­te steht das täg­li­che Brot. Um Zuwen­dung in direk­ter und umfas­sen­der Wei­se geht es dabei. Um ein Leben, das von dem ers­ten bis zum letz­ten Atem­zug auch so genannt wer­den kann. Hin­ter dem täg­li­chen Brot ste­cken Mühe und Arbeit und eine unfass­ba­re Güte. Karl-Hein­rich Bie­ritz sagt in einem Gedicht: „gnä­dig bist du dem acker/ wirfst ihn um/ schol­le für scholle/ trittst ihn mit füßen/ gnä­dig bist du dem samen/ mit vol­len händen/ gibst du ihn fort/ läßt ihn der erde/ der son­ne dem regen/ gnä­dig bist du der ernte/ beugst dich über die halme/ nimmst sie mit schar­fem schnitt/ raffst sie zusammen/ trägst sie davon/ schlägst sie und schlägst sie/ zum brot ja gnä­dig bist du uns allen.“

Ein merk­wür­di­ges Bild: unser Leben wie ein Acker, der da liegt und auf­ge­bro­chen, umge­pflügt, getre­ten wird. Dann wird der Samen aus­ge­sät und der Son­ne, dem Regen und dem Wind über­las­sen. Es braucht Zeit und Geduld, bis der Halm, schließ­lich die Ähre wächst, die spä­ter mit schar­fem Schnitt geern­tet und unter Schlä­gen zu Mehl ver­ar­bei­tet wird. Und erst unter der Hit­ze des Feu­ers ent­steht das Brot, das satt macht.

So wie das Brot erst durch den Pro­zess zu dem wird, was es ist, so ist es auch mit uns selbst.

Ein hoher und groß­zü­gi­ger Ein­satz steckt dahin­ter. Mit Freu­den und Ban­gen ist er ver­bun­den, mit Lust und Leid, mit tat­kräf­ti­gem Han­deln und gedul­di­gem War­ten. Das wird nie­mals selbst­ver­ständ­lich sein. Genau so wenig wie der Frei­raum, die eige­ne Schuld zu benen­nen und die Chan­ce, ein­an­der zu ver­ge­ben und einen Neu­an­fang zu wagen.

Bei dir sind all unse­re Tage gezählt. Das Gesche­he­ne kommt noch ein­mal in Erin­ne­rung. Was mit uns wird, steht noch dahin.

Diet­rich Han­nes Eibach

Jahreslosung 2012
Jesus Chris­tus spricht: Mei­ne Kraft ist in den Schwa­chen mächtig.
(2. Korin­ther 12, 9)
So steht es auf magen­ta­far­be­nem Hin­ter­grund auf einem Lese­zei­chen, das die Lan­des­kir­che her­aus­ge­ge­ben hat. Dar­un­ter ist ein Küken zu sehen, das aus einer Eier­scha­le her­aus­schaut. Ganz wit­zig! Ich habe mich gefreut und die­ses Lese­zei­chen mei­ner Toch­ter geschenkt. „Pri­ma,“ bedank­te sie sich schel­misch, „das könn­te im neu­en Jahr das Mot­to für mein Abitur werden.“
Ich war sprach­los und stell­te mir vor, wie ein vor­wit­zi­ger Teen­ager mit nichts ande­rem als die­sem Satz vor der Prü­fungs­kom­mis­si­on erscheint. Spä­ter muss­te ich an mei­ne eige­nen Prü­fun­gen im Leben den­ken und die­ses ver­zwei­fel­te Gefühl: Ich weiß nichts, ich kann nichts, ich bin nichts. Von Glau­bens­zu­ver­sicht kei­ne Spur!
„Mei­ne Kraft ist in den Schwa­chen mäch­tig.“ — Gut, dass die­ses Chris­tus­wort auch dann gilt, wenn man am aller­we­nigs­ten damit rechnet!
Jörg Rust­mei­er
Wenn nicht jetzt, wann dann?

Gedan­ken zum Wochen­spruch nach dem Sonn­tag Oku­li 2011

Wer sind die fünf­zig Tech­ni­ker, die im Atom­kraft­werk von Fuku­shi­ma trotz der mas­si­ven Ver­strah­lung ihre Bemü­hun­gen fort­ge­setzt haben, um die Reak­to­ren viel­leicht doch noch vor einer Kern­schmel­ze zu bewah­ren? In den Tagen der Angst hat sich die Hoff­nung ihres Vol­kes, wenn nicht der gan­zen Welt auf sie konzentriert.

Es könn­ten viel­leicht fünf­zig Gerech­te an dem Ort sein…“ (1. Mose 18,16 f.). Mit die­sem Argu­ment hat­te Abra­ham ange­fan­gen, mit Gott zu ver­han­deln, um die dro­hen­de Ver­nich­tung abzuwenden.

Auch Abra­ham hör­te auf­merk­sam zu, als ihn die bevor­ste­hen­den Kata­stro­phen­mel­dun­gen erreich­ten. Er hat sei­nen Kopf nicht in den Sand gesteckt und ist trotz­dem nicht in Panik gera­ten. Er ließ sich nicht von sei­ner Angst läh­men und ist auch nicht vor dem Gesche­hen davon­ge­lau­fen. Er hat sei­nen Hand­lungs­spiel­raum genutzt, solan­ge er konnte.

Angst ist selbst­be­zo­gen. Wenn ich Angst habe, kann ich nicht für die ande­ren da sein“, sag­te mir ein ehe­ma­li­ger Berg­mann in die­sen Tagen. Mehr­mals auf sei­nem Lebens­weg ist er mit den ihm anver­trau­ten Men­schen in Todes­ge­fahr gera­ten. Es war ein tie­fes Ver­trau­en, das er plötz­lich gespürt und das ihn immer wie­der aus der Enge her­aus­ge­führt hat.

Angst kann uns nur vor Gefah­ren war­nen. Wenn der Unfall gesche­hen ist, kann sie uns nicht mehr hel­fen. Was kann uns nun wei­ter­füh­ren? Ein rea­lis­ti­scher Blick und ein ange­mes­se­nes Handeln.

Auch im Evan­ge­li­um geht es um die­sen Blick und die­ses Han­deln, doch nun weni­ger in apo­ka­lyp­ti­scher und mehr in einer mes­sia­ni­schen Per­spek­ti­ve wie zum Bei­spiel in Lukas 9, 62: „Jesus sagt: ‚Wer sei­ne Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Got­tes‘“. Sol­che Wor­te dul­den kei­nen Wider­spruch. Und doch hal­ten wir öfter inne, um uns einen Über­blick zu ver­schaf­fen. Der Blick zurück in die Ver­gan­gen­heit hilft für das Ver­ständ­nis der Gegen­wart. Wer „Rück­sicht“ nimmt, ent­wi­ckelt auch eine Per­spek­ti­ve dafür, wohin der Weg in Zukunft füh­ren kann.

Manch­mal aber ist ein Zögern schäd­lich. Wer die Hand an den Pflug legt, kon­zen­triert sich auf das Ziel und geht bewusst vor­wärts. Sonst gerät der Pflug aus sei­ner Bahn und fängt an zu schlin­gern. Beim Pflü­gen wird die brach lie­gen­de Erde auf­ge­bro­chen. Der vom Win­ter hart gewor­de­ne Boden lockert auf und wird neu belebt. Was unten war, kehrt nach oben und die Nähr­stof­fe ver­tei­len sich. So wird der Boden vor­be­rei­tet, um die Saat auf­zu­neh­men. Nur wer beim Pflü­gen in der Fur­che bleibt, kann danach die Frucht gleich­mä­ßig aus­sä­en und spä­ter reich­lich ernten.

Jesus benutzt das Bild vom Pflü­gen als ein Gleich­nis für die Schöp­fungs­kraft des Lebens und für unse­re Mög­lich­kei­ten, dar­an mit­zu­ar­bei­ten. Dar­in ist ein erfolg­rei­cher Auf­bruch nur mög­lich, wenn ich nicht eine fal­sche „Rück-Sicht­nah­me“ vor­schie­be, son­dern auf das Not­wen­di­ge schaue, was vor uns liegt und jetzt getan wer­den muss. Nur so blei­be ich im Rhyth­mus und auf dem Weg des Lebens.

Und das ist ent­schei­dend. Dann erst kommt in den Blick, was die ande­ren machen und was um uns her­um geschieht.

Han­nes Eibach

Lass dich nicht vom Bösen überwinden…“

St. Georg, ver­gol­de­te Holz­plas­tik von Wal­ter E. Lem­cke, 1928 (Foto: Bild­ar­chiv Foto Marburg)

Über dem Ein­gang unse­rer Kir­che auf der West­sei­te ist der hei­li­ge Georg zu sehen. Er sitzt zu Pferd, eine Lan­ze in der Hand und ersticht einen Dra­chen, der sich noch am Boden win­det. Manch­mal den­ke ich, ein mar­tia­li­sches Bild, und ducke mich, wenn ich dar­un­ter durchgehe.

Lass dich nicht vom Bösen über­win­den, son­dern über­win­de das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21). So lau­tet die Jah­res­lo­sung für 2011. Georg nimmt das wört­lich und greift zur Lan­ze. Aber was ist mei­ne Waf­fe gegen das Böse? Ich ver­su­che es mit Fröh­lich­keit, Hoff­nung und mehr Geduld. Dar­um bit­te ich für 2011.

Jörg Rust­mei­er

Bereitet dem Herrn den Weg“ (Jesaja 40,3) — 3. Advent

(Foto von Rolf K. Wegst)

Vor zwei Wochen war ich dabei, als die jüdi­sche Gemein­de eine neue Torahrol­le in Gebrauch nahm. Auf­merk­sam saß die Fest­ge­sell­schaft im Land­gra­fen­saal des Staats­ar­chivs und ver­folg­te, wie die letz­ten Wor­te in die neue Schrift­rol­le ein­ge­tra­gen wur­den. Mit einem frisch geschnit­te­nen Gän­se­kiel trug der Schrei­ber das Gemisch aus Was­ser, Asche und Oli­ven­öl auf das Per­ga­ment­blatt auf, sorg­fäl­tig dar­auf bedacht, kei­nen Feh­ler oder einen Fleck zu hin­ter­las­sen. Dann wäre die wert­vol­le Rol­le nicht mehr koscher gewesen.In einem fröh­li­chen Zug tru­gen dann die jüdi­schen Gemein­de­mit­glie­der und die Rab­bi­ner die neue Torahrol­le unter einem Bal­da­chin durch die Lie­big­stra­ße zur Syn­ago­ge. Immer wie­der gaben sie sie sich unter­ein­an­der wei­ter, san­gen und tanz­ten dazu. Ich bekam den Ein­druck, als hand­le es sich hier um ein leben­di­ges Wesen und hat­te plötz­lich das Bild von einem neu­ge­bo­re­nen Kind vor mir. Und die­ses Bild wur­de noch ver­stärkt, als wir vor der Syn­ago­ge anka­men. Dann lie­fen näm­lich eini­ge Män­ner hin­ein, hol­ten die alten Torahrol­len aus dem Schrank und gin­gen damit der neu­en Rol­le zur Begrü­ßung ent­ge­gen. Es war eine gro­ße Freu­de unter der Fest­ver­samm­lung – so, als wür­de ein lang erwar­te­ter Gast end­lich ankom­men. Und ich frag­te mich, war­um ich nicht auch so einen leben­di­gen Umgang mit mei­ner Bibel habe. Dem Wort Got­tes begeg­ne ich oft nur als einem Text zwi­schen zwei Buch­de­ckeln, über den ich mir dann den Kopf zer­bre­chen muss. Den­ken in Bän­ken, anstatt durch eine befrei­en­de Ermu­ti­gung in Bewe­gung zu kom­men. Nichts gegen das Den­ken, aber wie wäre es, wenn es im Zusam­men­hang mit der fro­hen Bot­schaft durch eine fest­li­che Freu­de, durch Tan­zen und Sin­gen geweckt würde.

Und doch bin ich gera­de des­halb froh, dass mich die jüdi­sche Gemein­de an ihrem leben­di­gen Umgang mit dem Wort Got­tes teil­neh­men lässt – an die­ser spru­deln­den Begeis­te­rung und der befrei­en­den Hei­ter­keit. Wird hier doch deut­lich, dass das War­ten auf die Ankunft Got­tes in die­ser Welt vor allem Freu­de aus­löst. Die Lust an der Torah steht im Mit­tel­punkt und nicht die Sor­ge, etwas falsch zu machen. Denn man miss­ver­steht die Torah, wenn man meint, dass es sich hier nur um eine Ansamm­lung von Ver­bo­ten han­delt. Sie ist viel­mehr eine Weg­wei­sung und ein Tor zur Frei­heit. Sie zeigt uns, dass wir in allem ernst­haf­ten Bemü­hen, uns an Got­tes Wort zu hal­ten, doch allein auf sei­ne Gna­de ange­wie­sen sind.

Stel­len Sie sich vor, es käme auf dem Berg Sinai zu fol­gen­dem Dialog:
Gott: „… und beden­ke, Moses, Koche nie das Böck­lein in der Milch sei­ner Mut­ter. Das ist ein Greuel.”
Moses: „Ohhhh! Du sagst also, man soll mil­chig und flei­schig nie zusam­men essen?”
Gott: ” Nein, was ich sage, ist, dass man das Böck­lein nie in der Milch sei­ner Mut­ter kochen darf.”
Moses: „Oh, Herr ver­ge­be mir mei­ne Igno­ranz. Du sagst, dass wir sechs Stun­den nach dem Genuss von Fleisch war­ten sol­len, bis wir mil­chig essen, damit bei­des nicht gleich­zei­tig im Magen ist?”
Gott: „Nein, Moses, hör mir zu. Ich sage, koche nie­mals das Böck­lein in der Milch sei­ner Mutter.”
Moses: „Oh, Herr. Bit­te rich­te mich nicht für mei­ne Dumm­heit. Du meinst, wir sol­len sepa­ra­tes Geschirr für Mil­chi­ges und Flei­schi­ges haben? Und wenn wir einen Feh­ler machen, sol­len wir das Geschirr drau­ßen verbrennen?”
Gott: „Mach was du willst, Moses …”

Diet­rich Han­nes Eibach

Vater unser, ewiger Gott

Vater unser, arabisch (Paternosterkirche, Ölberg/Jerusalem)

Vater unser, ara­bisch (Pater­nos­ter­kir­che, Ölberg/Jerusalem)

Vater unser, ewi­ger Gott,

Du väter­li­che Kraft und Ener­gie, Du Vater unse­res Herrn Jesu Chris­ti, Du Vater über alles, was Kin­der heißt, Du, der Du alle unse­re Vor­stel­lungs­kraft über­steigst, Du unend­li­che Quel­le, von der Licht und Kraft aus­geht – (wenn ich allein die­se Anre­de für mich und zu mir spre­chen las­sen könn­te, bräuch­te ich im Grun­de gar nicht wei­ter zu beten …) …

Gehei­ligt wer­de Dein Name! Mir geht es immer zual­ler­erst um mei­nen Namen, um mei­ne Belan­ge oder allen­falls die Namen von Ver­wand­ten und Freun­den – jetzt aber stel­le ich das alles zurück, und ver­su­che, mir Dei­nen Namen zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, Dei­ne vie­len Namen, die Namen, die Men­schen in aller Welt Dir geben, die 99 schöns­ten Namen, und vor allem den Namen, den Du Dir sel­ber gibst, Du Gott Isra­els, Du Gott, des­sen Namen wir im Leben, Leh­ren und Lei­den Jesu Chris­ti erspü­ren, gehei­ligt wer­de Dein Name auch von mir, der ich hier sit­ze oder ste­he, inmit­ten all der Namen, die mich ansprin­gen – Dein Name, gro­ßer Gott, hilf, dass er mir wirk­lich etwas gilt, dass auch ich ihn hei­li­gen darf …

Dein Reich kom­me, Dei­ne Herr­schaft, sie kom­me über mich, mei­nen All­tag, mei­ne Fami­lie, unse­re Stadt! Dei­ne Herr­schaft der Lie­be und des Frie­dens, ich fle­he Dich an, lass sie nach Afgha­ni­stan kom­men, in den Irak, den Vor­de­ren Ori­ent, setz Dich doch durch – wo bleibt denn Dein Reich! Aber seg­ne alle Men­schen, in denen etwas von Dei­nem Reich sicht­bar wird, die Pfle­ge­kräf­te in unse­ren Kli­ni­ken, die ehren­amt­li­chen Mit­ar­bei­ter der Mar­bur­ger Tafel, die Ärz­te und tech­ni­schen Hel­fer in aller Welt – und Dank, dass Du uns nicht ersti­cken lässt zwi­schen poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen, son­dern dass es Men­schen gibt, die sich nach Dir und Dei­nem Reich sehnen …

Dein Wil­le gesche­he, wo geschieht er heu­te, geschieht er bei mir, wo könn­te, wo müss­te er gesche­hen? Was ist über­haupt Dein Wil­le? Wie soll ich das Schick­sal mei­ner Bekann­ten und Freun­de mit Dei­nem Wil­len in Zusam­men­hang brin­gen? Was will über­haupt mein eige­ner Wil­le? Nimm doch mei­nen Wil­len in Dei­ne Hand, dass ich will, was Du willst, Du im Him­mel, lass ein biss­chen Him­mel wer­den bei uns auf Erden, lass den Him­mel Dei­nes Wil­lens auf­ge­hen auch über mir, über den Men­schen, die mir jetzt in den Sinn kommen …

Unser täg­li­ches Brot gib uns heu­te! Du gibst mir täg­li­ches Brot, indem ich jetzt hier sit­ze, ein paar Minu­ten Zeit habe, mich auf Dich und auf mich selbst zu besin­nen. Dank! Und Du gibst mir täg­lich Brot, ich kann heu­te in Mar­burg her­um­lau­fen, kann ein­kau­fen, kann pla­nen, viel­leicht tref­fe ich Bekann­te. Ich will auch die Bett­ler auf der Uni­ver­si­täts­stra­ße nicht über­se­hen, min­des­tens einer soll heu­te etwas von mir haben, ein biss­chen Geld, ein paar gute Wor­te – lass Dein Reich kom­men, hei­li­ge Dei­nen Namen!

Und ver­gib uns unse­re Schuld, Du ver­gibst mir, bring auch mir bei, zu ver­ge­ben, und füh­re mich nicht in Ver­su­chung, hilf mir stand­hal­ten, füh­re mich und mei­ne Ange­hö­ri­gen nicht in die Ver­su­chung von fal­schen Zie­len, von Depres­si­on, lass wie­der Struk­tu­ren in unse­rer Gesell­schaft ent­ste­hen, die Halt bie­ten, statt in den Abgrund zu schleu­dern. Und erlö­se uns von dem Bösen! Von dem Bösen, das in uns ist, das ich in mir spü­re, setz dem Bösen Grenzen!

Denn Du hast die Kraft dazu, auf Dich läuft alles hin­aus. Dein ist das Reich und die Kraft und die Herr­lich­keit – und die Lie­be! – in Ewigkeit!

So ist es, so soll es sein, so wird es sein – Amen!

Text von Hans-Mar­tin Barth aus Anlass des Mar­bur­ger Frie­dens­wegs der Reli­gio­nen am 25.9.2010

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