(Foto von Rolf K. Wegst)
Vor zwei Wochen war ich dabei, als die jüdische Gemeinde eine neue Torahrolle in Gebrauch nahm. Aufmerksam saß die Festgesellschaft im Landgrafensaal des Staatsarchivs und verfolgte, wie die letzten Worte in die neue Schriftrolle eingetragen wurden. Mit einem frisch geschnittenen Gänsekiel trug der Schreiber das Gemisch aus Wasser, Asche und Olivenöl auf das Pergamentblatt auf, sorgfältig darauf bedacht, keinen Fehler oder einen Fleck zu hinterlassen. Dann wäre die wertvolle Rolle nicht mehr koscher gewesen.In einem fröhlichen Zug trugen dann die jüdischen Gemeindemitglieder und die Rabbiner die neue Torahrolle unter einem Baldachin durch die Liebigstraße zur Synagoge. Immer wieder gaben sie sie sich untereinander weiter, sangen und tanzten dazu. Ich bekam den Eindruck, als handle es sich hier um ein lebendiges Wesen und hatte plötzlich das Bild von einem neugeborenen Kind vor mir. Und dieses Bild wurde noch verstärkt, als wir vor der Synagoge ankamen. Dann liefen nämlich einige Männer hinein, holten die alten Torahrollen aus dem Schrank und gingen damit der neuen Rolle zur Begrüßung entgegen. Es war eine große Freude unter der Festversammlung – so, als würde ein lang erwarteter Gast endlich ankommen. Und ich fragte mich, warum ich nicht auch so einen lebendigen Umgang mit meiner Bibel habe. Dem Wort Gottes begegne ich oft nur als einem Text zwischen zwei Buchdeckeln, über den ich mir dann den Kopf zerbrechen muss. Denken in Bänken, anstatt durch eine befreiende Ermutigung in Bewegung zu kommen. Nichts gegen das Denken, aber wie wäre es, wenn es im Zusammenhang mit der frohen Botschaft durch eine festliche Freude, durch Tanzen und Singen geweckt würde.
Und doch bin ich gerade deshalb froh, dass mich die jüdische Gemeinde an ihrem lebendigen Umgang mit dem Wort Gottes teilnehmen lässt – an dieser sprudelnden Begeisterung und der befreienden Heiterkeit. Wird hier doch deutlich, dass das Warten auf die Ankunft Gottes in dieser Welt vor allem Freude auslöst. Die Lust an der Torah steht im Mittelpunkt und nicht die Sorge, etwas falsch zu machen. Denn man missversteht die Torah, wenn man meint, dass es sich hier nur um eine Ansammlung von Verboten handelt. Sie ist vielmehr eine Wegweisung und ein Tor zur Freiheit. Sie zeigt uns, dass wir in allem ernsthaften Bemühen, uns an Gottes Wort zu halten, doch allein auf seine Gnade angewiesen sind.
Stellen Sie sich vor, es käme auf dem Berg Sinai zu folgendem Dialog:
Gott: „… und bedenke, Moses, Koche nie das Böcklein in der Milch seiner Mutter. Das ist ein Greuel.”
Moses: „Ohhhh! Du sagst also, man soll milchig und fleischig nie zusammen essen?”
Gott: ” Nein, was ich sage, ist, dass man das Böcklein nie in der Milch seiner Mutter kochen darf.”
Moses: „Oh, Herr vergebe mir meine Ignoranz. Du sagst, dass wir sechs Stunden nach dem Genuss von Fleisch warten sollen, bis wir milchig essen, damit beides nicht gleichzeitig im Magen ist?”
Gott: „Nein, Moses, hör mir zu. Ich sage, koche niemals das Böcklein in der Milch seiner Mutter.”
Moses: „Oh, Herr. Bitte richte mich nicht für meine Dummheit. Du meinst, wir sollen separates Geschirr für Milchiges und Fleischiges haben? Und wenn wir einen Fehler machen, sollen wir das Geschirr draußen verbrennen?”
Gott: „Mach was du willst, Moses …”
Dietrich Hannes Eibach