Hier erfahren Sie Interessantes über die Bau- und Kirchengeschichte der Universitätskirche sowie den russischen Aufklärer Michail Vasilevič Lomonosov und dessen Beziehung zur Universitätskirche.
Von der Kirche des Dominikanerklosters zur Universitätskirche [1]
Den Experten gewiss bekannt, wurden sie beim Stöbern in den Gemäuern der Universitätskirche von Weidenhäuser Schulkindern wieder entdeckt: die Zellenfenster des ehemaligen Dominikanerklosters am Lahntor, der heutigen Alten Universität. Die kleinen Fenster sind unter dem Dachgebälk des neugotischen Kreuzganges verborgen, der an der Westwand der Universitätsaula vorbeiführt und deren Eingangshalle bildet. Die mit Ziegelsteinen zugemauerten Fenster ähneln mit ihren Rahmen aus behauenen Sandsteinblöcken den Zellenfenstern am Kugelhaus und am ehemaligen Franziskanerkloster „Am Plan“, das heute der Universität als Seminargebäude dient. Manche der Zellenfenster, hinter denen die Dominikaner lebten, zeigen noch die alte Vergitterung, an allen sind noch die Verankerungen von Holzläden zu sehen, mit denen einst bei rauer Witterung die Fenster geschlossen wurden.
Alte Universität und ehemaliges Dominikanerkloster 1879/1887
(Bildindex der Kunst und Architektur)
Das Kloster existiert nicht mehr. Die Dominikaner mussten Marburg 1527 verlassen, das Gebäude wich Ende des 19. Jahrhunderts dem Neubau der Universität. Geblieben ist jedoch die Kirche, die bei der Neugestaltung der Universität als Wahrzeichen der Stadt unangetastet blieb. Auf der Südseite des Schiffs, hoch unter dem Gewölbe erinnert eine Inschrift an die drei entscheidenden Daten ihrer bisherigen Geschichte:
Im Jahre 1300 begonnen, 1658 durch Landgraf Wilhelm VI. für den evangelischen Gottesdienst wieder hergestellt. Erneuert 1927.
Im Jahre 1300 begonnen
1291 hatte Landgraf Heinrich I. von Hessen den Mönchen des Predigerordens vom Heiligen Dominikus Land am Lahntor über der Weidenhäuser Brücke zum Bau eines Klosters zur Verfügung gestellt. Um 1300 entstand auf dem Felsen über der Lahn der hochragende Chor der Dominikanerkirche und ein sich im rechten Winkel an den Chor der Kirche anschließendes Klostergebäude, das Küche, Esssaal, Schlafsaal und die Zellen der Mönche enthielt. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs das Kloster, bis es im Jahre 1521 den Umfang der heutigen Alten Universität erlangt hatte, die vom Rudolphsplatz, dem Lahntor, der Reitgasse und dem Kornmarkt umschlossen wird. Die Klosterkirche selbst blieb jedoch ein baulicher Torso. Der hochragende Chor bricht plötzlich ab, ein flaches Kirchenschiff mit einem Seitenschiff hinter dicken Säulen schließt das Ganze völlig unorganisch ab.
Zu seinen besten Zeiten lebten etwa 25 Mönche im Kloster, das unter der Leitung eines Priors und eines Subpriors stand. Als Bußprediger sahen sie sich wie Johannes der Täufer als „Rufer in der Wüste“, und so gaben sie ihrer Klosterkirche den Namen Johannes des Täufers.
Der Tageslauf der Mönche war durch vier Gebetszeiten geregelt, zu denen man sich im Chor der Kirche traf. Nach dem Willen des Ordenstifters Dominikus war es die Aufgabe der Predigermönche, der christlichen Gemeinde mit Verkündigung und Seelsorge zu dienen. Die Zeit im Kloster sollte zum Bibelstudium, zu theologischer Arbeit und zur Pflege der Frömmigkeit ausgenutzt werden. Der regelmäßige Besuch der Armen, Kranken, Verlassenen und Sterbenden in der Stadt und ihrer Umgebung war den Mönchen Pflicht.
Die Mönche durften keinen persönlichen Besitz haben. Alles gehörte der Klostergemeinschaft. Wie Johannes der Täufer sollten sie ausschließlich von Spenden und milden Gaben der Gläubigen leben, die ihnen freiwillig gereicht wurden. Aus den Gabenverzeichnissen des Klosters, die im Staatsarchiv lagern, wissen wir, dass die Dominikaner in Marburg wegen ihrer Frömmigkeit sehr beliebt waren und darum auch ihre Kirche reich ausstatten konnten. So befand sich im Hohen Chor ein Schnitzaltar, wahrscheinlich ein Johannesaltar, an dem täglich die Messe gelesen wurde. Ein Steinbogen in der Chorwand unter der heutigen Orgelempore kennzeichnet noch den Platz, an dem während der Messe die zelebrierenden Priester saßen. Daneben befindet sich ein sehr verblasstes Wandgemälde, das einen Dominikanermönch in seiner schwarz-weißen Kutte zeigt, der anbetend vor der Madonna mit dem Kinde kniet. Die Schrift des Spruchbandes in seinen Händen ist nicht mehr zu entziffern. Ein Wappenbild, das einen großen Schwan auf dem Gemälde zeigt, lässt vermuten, dass ein Glied der berühmten Kaufmanns- und Bürgermeisterfamilie Schwan aus Marburg Stifter des Bildes gewesen ist. Nach der Familie Schwan haben die Schwanallee und der Schwanhof in Marburg ihre Namen erhalten.
Am Hochaltar wurden auch die Sterbemessen für die Mitglieder der St.-Jakobs-Bruderschaft gelesen, die das Gotteshaus St. Jakob in der Weidenhäuser Straße unterhielt.
Vor einer Marienstatue im Chor brannte ein ewiges Licht, und die Schusterinnung entzündete täglich Opferkerzen vor der Schnitzfigur ihres Schutzpatrons St. Crispin, die ebenfalls im Chore stand [2]. Nach der Reformation soll die Figur des Hl. Crispin aus der Kirche in den Kilian gewandert sein, wo die Schuster ihre Zunftstube hatten. Bei Auflösung der Schusterzunft im Jahre 1809 ist die Figur an einen Marburger Schuster versteigert worden. Seitdem ist sie verschwunden.
Im Seitenschiff zur Reitgasse hin befand sich der Severinsaltar, dessen Altarnische heute noch in der Wand neben dem Kirchenvorstandsgestühl der Universitätskirche (heute Platz des Kindergottesdienstes) zu sehen ist. Hier hielten die St.-Severins-Bruderschaft und die Rosenkranz-Bruderschaft ihre Gottesdienste ab und stifteten ihre Kerzen.
Die Bruder- und Schwesternschaften des Mittelalters zur Pflege der Frömmigkeit und Übernahme sozialer und geselliger Aufgaben sind entfernt mit den Gemeindekreisen heutiger Kirchengemeinden vergleichbar, obwohl ihre Organisationsform völlig anders war. Dass die Schusterzunft und drei Bruderschaften ihre Heimat in der Dominikanerkirche hatten, zeigt die lebendige Seelsorge- und Gemeindearbeit der Mönche.
Großen Zulauf fanden auch die Predigten der Dominikaner, die sonntags von 12.00 bis 13.00 Uhr in der Kirche gehalten wurden, und die Bet-Sing-Messen, die donnerstags und samstags zur Pflege der Volksfrömmigkeit stattfanden. Auch ließen die Marburger gerne ihre Seelen- und Gedächtnismessen für Verstorbene von Priestern des Dominikanerordens lesen, was die vielen Stiftungen und Schenkungen an das Kloster beweisen. Im Jahre 1459 muss die Dominikanerkirche sogar eine Orgel gehabt haben, denn in einer Schenkungsurkunde heißt es:
Johann Ouinckus gibt dem Bruder Heinricus Mengelonis, Prior, Ludwig Bodirklois und den übrigen Herren und Brüdern des Predigerordens 100 Gulden zu einem Testament. Dafür sollen sie jeden Donnerstag auf dem hohen Altar ihrer Kirche eine Singmesse halten „de Corpore Christi“ mit Orgelspiel und der Sequenz „lauda Sion“ oder einigen Versen daraus, „ecce panis angelorum“ nach Gelegenheit der Zeit. 1459, in die assumptionis virgines gloriose.
Nach dieser Urkunde soll an jedem Donnerstag am Hochaltar der Universitätskirche eine Messe nach der Fronleichnamsliturgie gefeiert werden, wobei die Gesänge „Lobe Zion, deinen Erlöser“ und „Siehe das Engelsbrot“ angestimmt werden sollen. Die Urkunde wurde am Tage Mariä Himmelfahrt (15. August) 1459 ausgestellt.
Einen Einblick in die Art mittelalterlicher Gottesdienste gibt uns eine andere Stiftungsurkunde, in der es heißt:
Der Pfarrer Hermann Contzen in Schweinsberg hatte ins Predigerkloster 100 Gulden zu einem Testament gegeben. Der Prior Johannes Andree, der Subprior Ludwig Bodirklois, der Lesemeister Heinricus Bodenbender und die übrigen Herren und Brüder bezeugen, dass sie diese Summe am Schlafhause und Rebentur (Speisesaal) verbaut hätten. Dafür sollen sie jeden Sonnabend in ihrer Kirche morgens nach dem ersten Geläute auf und vor dem Altar unserer lieben Frau, der himmlischen Königin, eine Singmesse halten und singen die Sequenz „ave preclara“ (= Sei gegrüßt du Holdseelige), und 2 Knaben sollen mit brennenden Kerzen in ihren Händen vor den Altar treten, als man unsern Herrgott in der Messe hebt, (gemeint ist das Erheben der geweihten Hostie nach der Wandlung; F.D.) und singen „miserere miserere populi tui, quod redemisti cum sanguine tuo etc.“ (= Erbarme, erbarme dich deines Volkes, das du durch dein Blut erkauft hast) als das man pflegt zu singen, wenn man die Kreuze trägt. Auch soll der Priester, welcher die vorgenannte Messe singt, allezeit die Collecte uffsagen „fidelium deus omnium conditor etc.“ (= Herr, du Schöpfer aller Gläubigen). 1452, tertia feria ante festum Bartholomei apostoli (= am Dienstag vor dem Bartholomäustag, den man am 24. August feierte; F.D.).
Durch die ausgedehnte seelsorgerliche Tätigkeit der Dominikanermönche fühlte sich der vom Deutschen Orden eingesetzte Stadtpfarrer an der Marienpfarrkirche öfter in seinen Rechten und Pflichten eingeschränkt. So beschwerte sich 1453 der Stadtpfarrer Johann Leybenit vor Notaren und Zeugen, dass der Lesemeister des Dominikanerklosters Bodenbender in seine Seelsorge eingegriffen habe. Ein Jahr später versuchte der Scholastikus Rosenberg aus Mainz im Hause des Bürgermeisters in Gegenwart zweier Schöffen, eines Notars, des Stadtpfarrers und zweier Vertreter des Klosters den Streit zu schlichten. Wie dieses Gespräch endete, wissen wir nicht, wohl aber, was auf Kosten der Stadt verzehrt wurde: Nämlich 4 Maß Elsässer Wein und 5 Maß Bier. Im Jahre 1504 musste noch einmal ein solcher Streit geschlichtet werden [3].
Als im Jahre 1527 die Reformation in Marburg eingeführt wurde, sahen die Dominikaner keine Seelsorgemöglichkeit in Marburg mehr. Landgraf Philipp schlug den Mönchen vor, das Kloster aufzugeben und in den weltlichen Stand zurückzukehren, oder sich abfinden zu lassen. Zur Ehre des Marburger Dominikanerkonventes muss man sagen, dass keiner der Mönche die Klostergemeinschaft verlassen hat. Geschlossen haben die Mönche die Stadt Marburg mit unbekanntem Ziel verlassen. Die kaum noch leserliche und stark zerstörte Verzichtsurkunde trägt die Unterschriften von: Johannes Ysemrot, Prior, Heinricus Calipisieus, Johannes Danielis, Johannes Pistoris, Philippus Henckemann, Eckhardus Gieß, Jakobus Solmacher, Ludevicus Sutoris, Conradus Pistoris, Ruel Heckmann, Wolfgang Biedencap, Johannes Frankenberg, und Petrus Nictatoris.
In die leerstehenden Klosterräume, die seitdem den Namen „Collegium Lani“ tragen, zog 1527 die neu gegründete Philipps-Universität ein. Das Haus des Priors, das parallel zum Lahntor stand, beherbergte von 1531 bis 1868 das Pädagogicum, das spätere Gymnasium Philippinum. Auch die Klosterkirche wurde zwar zunächst der Universität zugewiesen, diese nutzte sie jedoch nur für Begräbnisfeiern der Professoren. Das Inventar wurde zugunsten eines „gemeinen Gotteskastens“, welcher der Marburger Armenpflege diente, verkauft (auch die mittelalterliche Orgel wird in dieser Zeit verloren gegangen sein), die geistlichen Bruderschaften wurden aufgelöst.
Als im Januar 1552 ein Hochwasser der Lahn die beiden mittleren Brückenbogen der Weidenhäuser Brücke einriss, wobei 24 Menschen den Tod fanden, beabsichtigte die Stadt, die nutzlose Dominikanerkirche abzubrechen und aus ihren Steinen die Brückenbogen zu erneuern. Dazu kam es zum Glück nicht. Aber nahezu ein Jahrhundert, von 1579 bis zu ihrer Wiederherstellung, diente die riesige Kirche als Kornspeicher, weshalb der ehemalige Begräbnisplatz der Dominikaner noch heute den Namen „Kornmarkt“ trägt. Fenster an der Nordseite und vermauerte Fenster über dem Westportal, ehemalige Lüftungsluken für die vier eingezogenen Speicherböden, erinnern noch an diese Zeit.
1658 durch Landgraf Wilhelm VI für den evangelischen Gottesdienst wieder hergestellt
Erst 1653, als nach dem Dreißigjährigen Krieg auf Betreiben des 1. Kurators der Universität von Dauber, der aus einer Weidenhäuser Familie stammte, die Philipps-Universität wieder ihre Pforten öffnete, ließ Landgraf Wilhelm VI. die Kirche wieder herrichten. Aus jener Zeit stammen die barocke Kanzel, der Altartisch, dessen Steinplatte auf vier geschnitzten Eichenfüßen ruht, und das Holzgewände des heutigen Taufbrunnens, das ursprünglich als Lesepult diente. Auch eine neue Orgel ist damals wahrscheinlich errichtet worden, denn die Kirchengemeinde der Universitätskirche hat Jahrhunderte lang stets einen Kantor und einen Organisten bezahlt.
Die Kirche wurde der seit 1607 bestehenden kleinen niederhessisch-reformierten Gemeinde übergeben. Im Juli oder August 1658 konnte der erste Gottesdienst in ihr gehalten werden.
Da sich die Gemeinde ursprünglich vor allem aus Angehörigen des Hofes und der Garnison zusammensetzte, wurde die Universitätskirche bis zur Auflösung der Marburger Garnison mit dem zweiten Weltkrieg auch als Garnisonskirche gebraucht.
Der Gemeinde schlossen sich aber auch einige Marburger Bürgerfamilien an, wovon besonders die bemerkenswerte Geschichte der Familie Unkel zeugt (vgl. Ritter, Dreihundert Jahre), die seit den sechziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts bis heute zur Gemeinde gehört und darüber hinaus zahlreiche Kirchenälteste in ihren Reihen zählt (nachgewiesen seit 1790; der bisher letzte, der Optiker Friedrich Unkel, schied erst vor wenigen Jahren aus diesem Amt). Lange Zeit lautete der vollständige Name der Universitätskirche denn auch „Universitäts‑, Garnisons- und evangelisch-reformierte Stadtkirche“.
Kassettendecke über dem Kirchenschiff 1927
(Bildindex der Kunst und Architektur)
Als gottesdienstlicher Versammlungsraum der niederhessisch-reformierten Gemeinde wurde die Universitätskirche zu einer Diaspora-Kirche innerhalb des oberhessischen Luthertums. Philipp der Großmütige hatte die Reformation in seinem Land als „mildes Luthertum“ eingeführt und sich mit dem Marburger Religionsgespräch von 1529 um eine Aussöhnung zwischen Lutheranern und Reformierten bemüht. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert führte dagegen Landgraf Moritz der Gelehrte mit seinen „Verbesserungspunkten“ unter Beibehaltung des lutherischen Bekenntnisses (der Augsburgischen Konfession und der Apologie Melanchthons) eine „verdeckte“ zweite Reformation durch, die einerseits die Bündnisfähigkeit mit den reformierten Staaten im Westen sichern sollte, ihm andererseits aber auch als notwendige Bedingung für kulturellen Fortschritt, ja als dieser Fortschritt selbst galt. Die Verbesserungspunkte sahen u.a. die Verwendung von normalem Brot beim Abendmahl (da Christi Gegenwart als nur geistlich und nicht real gelehrt wurde) und ein klares Bilderverbot vor. Zerstörte Reliefs und leere Nischen an der Westseite der Universitätskirche erinnern an die Bildervernichtung im Zuge der „Reform“. Die entschiedene Verweigerung der „mauritianischen Verbesserung“ in Oberhessen hatte jedoch zur Folge, dass neben der Universität nur die Hof- und Garnisonsgemeinde in Marburg „reformiert“ werden konnte, eben jene Gemeinde, die später ihren Gottesdienstraum in der Universitätskirche fand [4].
Da durch Landgraf Moritz die Universität ihren ursprünglich lutherischen Charakter verloren hatte, konnte die ehemalige Klosterkirche auch zur Kirche der Universität werden. Bis heute erfüllt sie die Doppelfunktion, Kirche ihrer Ortsgemeinde und Kirche der Universitätsgemeinde zu sein [5].
Für die aus verschiedenen Körperschaften und Ständen zusammengesetzte Gemeinde wurde vom Fürsten eine feste Sitzordnung bestimmt. So erhielten der Landgraf und die Angehörigen des Hofs, die Ratsherren, Professoren, das Hofgericht, das peinliche Gericht, die Regierung und die Beamtenschaft, Offiziere, Bürger, Schüler des Pädagogicums, Studenten und die Insassen der Deutsch-Ordens-Kommende jeweils eigene Plätze. 1706 wurde eine Vorschrift erlassen, in welcher Reihenfolge die einzelnen Kirchenstände das Abendmahl empfangen sollten: zuerst die Ratsherren unten im Chor, dann die Professoren unten und oben, dann der Hof und die Regierung, dann die Bühne der Gerichtsbehörden, schließlich die Studenten, Beamten, hohen Offiziere usw.
Wie der Innenraum zur Zeit des Barock genau ausgesehen hat, ist unbekannt, aber die Anordnung des Gestühls für den reformierten Predigtgottesdienst zeigen Fotografien aus der Zeit vor dem Umbau von 1904: Der Altar stand unter der Kanzel, Bänke und geschlossene Balkone umrahmen sie im Chor, Kirchenschiff und an der Nordseite der Kirche.
Ihre Verbundenheit mit der Gemeinde drückten besonders die adligen Gemeindeglieder durch Schenkungen von Altargeräten aus. Eine noch heute im Gebrauch befindliche Abendmahlskanne von 1663 stiftete die Tochter eines Regierungsrats, Anna Adelheid Vultejus, dem Andenken ihres verstorbenen Ehemanns, der ebenfalls Regierungsrat gewesen war. Ihr Familienwappen, ein Hundekopf mit Halsband und Ring, ist in die Kanne eingraviert.
Die Gemeinde entwickelte sehr bald auch karitative und pädagogische Aktivitäten. Von 1690 bis 1824 unterhielt sie ein Waisenhaus und von 1653–1824 eine Schule, die seit 1671 in der ehemaligen Kilianskirche untergebracht war. 1824 wurden Schule und Waisenhaus mit den jeweiligen lutherischen Einrichtungen vereint.
Bis ins späte 19. Jahrhundert ist die Geschichte der reformierten Gemeinde stark durch den konfessionellen Gegensatz zum vorherrschenden Luthertum geprägt. 1896 bemerkte der damalige Superintendent und langjährige Pfarrer der Universitätskirche, W. Wolff, dass die Geschichte der reformierten Gemeinde ohne den Konfessionsstreit nicht zu verstehen sei, meinte aber: „gerade dadurch, dass in der Entstehung und Entwicklung dieser Gemeinde solche allgemeineren Gegensätze sich abspiegeln, hat die Geschichte derselben nicht bloß ein lokales Interesse für Marburg, sondern auch ein allgemeineres für die hessische Kirche“ (S.4). Wolff erinnert in seiner Geschichte der reformierten Gemeinde unter anderem daran, dass es erst 1780 durch den Einfluss Jung-Stillings möglich wurde, „dass ein reformierter Mann mit seiner lutherischen Frau und ein lutherischer Mann mit seiner reformierten Frau abwechselnd in der einen und anderen Kirche zum heiligen Abendmahl gehen durfte“ (S.7). Und Wolff selbst war Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts in einen kirchenrechtlichen Streit involviert, der aus den konfessionellen Spannungen herrührte: Es ging um das seit 1876 verwehrte Recht reformierter Paare, sich auch in der Elisabethkirche trauen zu lassen. Wolff verteidigte es in einer kirchenrechtlichen Studie [6].
1841 wurde eine umfassende Renovierung des Innenraumes der Universitätskirche in Angriff genommen, in deren Zuge 1846 eine neue Orgel des Eschweger Orgelbaumeisters Friedrich Krebaum (gest. 1845) zur Aufstellung kam, die allerdings schon 1894 durch einen Neubau mit neugotischem Prospekt von der Firma Förster in Lich ersetzt wurde.
Im Jahre I904 wurde diese Orgel im Zuge einer neuen, groß angelegten Innenrenovierung der Universitätskirche wesentlich erweitert und in den hohen Chor auf eine große, neuerbaute Sängerempore gesetzt. Bei dieser Renovierung wurde auch das seit Jahrhunderten vermauerte dreiteilige Westfenster der Kirche wieder freigelegt und restauriert.
Am äußeren Erscheinungsbild der Kirche hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht allzu viel geändert. Der Dachreiter stammt aus dem 18. Jahrhundert, in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde vor das Nordportal ein neugotischer Windfang gesetzt, der aber mit der Renovierung von 1927 wieder entfernt wurde.
Blick in den Hohen Chor 1869/1900 (Bildindex der Kunst und Architektur)
Erneuert 1927
1926 entschloss sich der Preußische Staat, zur bevorstehenden Vierhundertjahrfeier der Philipps-Universität den Innenraum der Universitätskirche von seiner neugotischen Kruste zu befreien und völlig neu zu gestalten. Viele Renovierungspläne wurden aufgestellt und wieder verworfen. Schließlich setzte sich K.B. Ritter, der Anfang 1925 aus Berlin kommend die erste Pfarrstelle des damaligen Kirchenrats Chr. Eisenberg übernommen hatte, mit einer Denkschrift durch, die zum Programm der (seinerzeit sehr umstrittenen) Neugestaltung des Kirchenraums wurde. In dieser Denkschrift schrieb Ritter:
Jeder Stil ist Ausdruck der Gesamthaltung einer Epoche dem Metaphysischen gegenüber. Daher kann die Ausdruckssprache einer abgelaufenen Epoche stets nur dekorative Wirkungen erzielen, aber nie der gegenwärtigen Haltung entsprechen. Gerade die protestantische Frömmigkeit fordert strengste Wahrhaftigkeit und Gegenwärtigkeit. Der protestantische Kultus der Gegenwart kann und darf sich nicht in das Gewand einer vergangenen Epoche hüllen. (…)
Der protestantische Gottesdienst ist immer, mag er nun Predigtgottesdienst oder Sakramentalgottesdienst sein, ein Ausdruck dafür, dass die Gemeinde vor Gott steht. Das bedeutet die Überwindung des Individualismus im Zusammenschluss der Gemeinde der aus der Zerstreuung dieser Welt herausgerufenen und zusammengerufenen Schar. Dieser Zusammenschluss erfolgt durch die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel, durch Einfügung des Einzelnen in eine Gemeinschaft des Gehorsams. Es ist die demütige ecclesia crucis (= Kirche des Kreuzes), nicht die ecclesia triumphans (= die triumphierende Kirche), also die in ihrer eigenen Lebensbewegung immer wieder gebrochene und umgewandte Gemeinde, die unter dem Kreuze steht. (…)
[Der Kirchenraum] hat die Aufgabe, der leibhaftig versammelten Gemeinde dazu mit zu verhelfen, dass sie aus einer bloßen Versammlung zur Höhe gemeindehaften Daseins emporgehoben wird. (…) In den Kirchenraum gehört nur das, was Ausdruck der vor Gott stehenden Gemeinde zu werden vermag“ (K.B. Ritter, Denkschrift).
Die Umsetzung der in Ritters Denkschrift vorgeschlagenen architektonischen Ideen ist dem preußischen Ministerialrat Fritz Keibel zu verdanken, der in einem ausführlichen Renovierungsbericht Auskunft über architektonische und technische Details des Umbaus gegeben hat (F. Keibel, Die Wiederherstellung), in dem er u.a. festhielt:
Bei der Erneuerung des Kircheninnern ist versucht worden, die größten Mängel in der Ausgestaltung des Innenraumes zu beseitigen. Daneben galten die Bemühungen einer günstigeren Anordnung des Gestühls und der Emporen bei gleichzeitiger Beibehaltung der Platzzahl und unter Konzentrierung des Blicks der Gemeinde auf Altar und Kreuz. (…) Um das Chor besser zur Geltung kommen zu lassen, wurde die mittelalterliche (flache; H.K.) Notdecke über dem Schiffe ausgeschnitten und in den alten Dachstuhl eine Tonne eingefügt, die durch einen neuen Triumphbogen gegen das Chor hin abgeschlossen ist. (…) Es wäre (…) zu erwägen gewesen, ob man die Tonne nicht besser (…) über der ganzen Schiffbreite entwickelt hätte. In diesem Falle hätte natürlich der Triumphbogen nicht konzentrisch zur Tonne des Schiffes ausgebildet werden können, dafür wären aber die verschieden breiten Restflächen der flachen Decke entlang der Nord- und Südwand vermieden worden. Verfasser hat diese Härte zu mildern versucht durch räumliche Unterteilung der Restflächen und durch einen starken plastischen Fries. (…) Zur Vermeidung von Härten zwischen Triumphbogen und Deckenfläche wurde als Abschluss der Decke gegen den Triumphbogen ein geschnitzter Maßwerkschleier vor den Triumphbogen gesetzt.
Bei der farbigen Behandlung der Tonne und der anschließenden Teile wurde eine teppichartige Wirkung zu erreichen versucht, wie sie sich in manchen Kirchen Oberitaliens aus romanischer Zeit, z.B. in San Zeno in Verona, vorfindet, in unserem Falle mit weinrotem Grunde und Höhung durch Weiß, Gelb und Grau. (…)
Bei der Gestaltung der Emporen des Seitenschiffes wurde versucht, die Pfeiler, die bei der früheren Gestaltung der Tribüne vollkommen überschnitten wurden, frei in ihrer ganzen Höhe durchlaufen zu lassen. Es ergaben sich so die weit auskragenden Balkone, da die Gemeinde gerade auf diese sehr guten Plätze nicht verzichten wollte. (…) Bei der Gestaltung der Brüstungen wurde die Formensprache und Farbgebung der Decke wieder aufgenommen. (…)
Die kleinen Bronzekronen im Innern, die in zwei Reihen von der gewölbten Decke an roten Seidenschnüren herabhängen, sind möglichst tief angebracht, damit sie ein gutes Leselicht ergeben, ohne den oberen Teil des Schiffes zu sehr zu erhellen (…) Die Logen unter den drei Tribünen haben unmittelbare Beleuchtung in den Kassetten der Decken erhalten (…)
Durch die neu eingefügte Tonne wurde der Blick in den Chorraum frei. Es galt daher, den Altarraum würdig nach Osten abzuschließen, ein erhöhtes Podium für einen größeren Sänger- und Orchesterchor zu schaffen, die Orgel an die Ostwand des Chores heranzurücken und den Prospekt so auszubilden, dass er sich dem hoch aufragenden Raume einfügte (…) So entstand die Abschlusswand hinter dem Altarraum, die, möglichst niedrig gehalten, nach oben durch eine geschnitzte, durchbrochene und vergoldete lettnerartige Schranke bekrönt wird, mit Darstellungen aus dem Leben und Leiden Christi. An Stelle der Kreuzigung, die in der Reihe der Bilder fehlt, ist auf besonderen Wunsch des Pfarrers Ritter das große Kreuz hinter dem Tische des Herrn errichtet.
So erfüllt die Gestaltung das Programm der architekturtheologischen Denkschrift Ritters: Das im Zentrum des Blicks zwischen Schiff und Chor aufragende Kreuz macht sinnfällig, wie sich die Gemeinde in der gemeinsamen Hinwendung zum Kreuz zusammenschließt. Die seitliche Anordnung der Kanzel stellt dem Prediger die Aufgabe, auf das Kreuz hinzuweisen und die Blicke von sich fort zu wenden. Im Schiff sind alle Formen vermieden, die von der Blickwendung zum Chor ablenken könnten. Aus dem gleichen Grund weist der Altarraum die stärkste Farbgebung auf. Der Chor ist die hellste Lichtquelle, während das Schiff in gedämpftem, fast dunklem Licht liegt: die Gemeinde schaut aus dem Dunkel zum Licht. Endpunkt des Blickfangs ist oben, dort wo das Gewölbe im Sechseck auseinander geht, der Christuskopf. Er stammt noch aus der Zeit der Errichtung der Kirche, weshalb lange angenommen wurde, es müsse sich um Johannes den Täufer handeln. Heute ist man aber eher davon überzeugt, dass es Christus ist, der Eckstein, auf den die Kirche gegründet ist, in dem allein sie gehalten wird. Der siebenarmige Leuchter und das Christus-Monogramm über der Nord- und der Südtür zu den Sakristeiräumen verweisen auf die biblischen Heilswege des Judentums und des Christentums, auf den Alten und den Neuen Bund.
Lichtverstärkend im Chor wirken die Pfeifen des expressionistischen Orgelprospektes, das die Förstersche Orgel ersetzte. Seine Form soll die Flügel einer Harfe darstellen, der Harfe, die den Psalter Davids begleitete. Bei der Erneuerung der Orgel durch die Firma Walker wurde das alte Orgelwerk zunächst eingearbeitet. Erst in den fünfziger Jahren wurde das Pfeifenmaterial der neugotischen Orgel durch neues ersetzt. Die alten Windladen verschwanden erst Mitte der sechziger Jahre, nachdem sie in dem kalten Winter 1963/1964 gerissen und völlig unbrauchbar geworden waren.
In Zusammenhang mit der Renovierung wurde die Kirche mit einer Reihe von geistlichen Kunstwerken im modernen Stil der zwanziger Jahre ausgestattet. Der erwähnte Lettner stammt von dem Bildhauer Wilhelm Lemcke. Er wurde 1928 eingezogen. Ebenfalls von Lemcke stammen die Figur des Pelikans [7] auf der Brüstung der Südempore, die vier Delfine auf der Messingschale des Taufbeckens (sie speien während der Taufhandlung Wasser), die Evangelistensymbole an den Säulen der Nordseite sowie die Figur St. Georgs über dem Westportal.
Altarkreuz von Otto Coester (Foto Marburg)
Die bronzenen Altarleuchter, deren Sockel ein stark expressionistisches Engel-Relief schmückt, schuf Otto Coester. Von ihm stammt auch das erste, ebenfalls stark expressionistische hölzerne Altarkreuz, das Christus als vergreistes Kleinkind zeigt. Coester stellte damit eine Verbindung zwischen dem Geschehen am Kreuz und der antiken Sage vom Gott Chronos her: Als Romulus bei der Gründung der Stadt Rom den Umkreis mit einem Pflug abmaß, legte er ein kleines Kind aus der Erde frei, das anfing zu sprechen und in ungeheurer Geschwindigkeit die bisherige und kommende Weltgeschichte erzählte, wobei es vergreiste und schließlich starb. Dieses Kind war der Gott Chronos: die Zeit. Dass Zeit und Ewigkeit in den Händen Christi liegt, sollte durch dieses Altarkreuz zum Ausdruck gebracht werden. Damit war die Gemeinde jedoch überfordert. Sie lehnte das Altarkreuz ab, das schließlich seinen Ort in der Sakristei fand und durch das helle Altarkreuz des Goldschmieds Professor Rickert ersetzt wurde. Dieses nimmt das Leitmotiv des Lettners auf und zeigt Christus inmitten von Weinranken. Vier Evangelistensymbole korrespondieren den Symbolen an den Säulen der Nordseite des Kirchenschiffs.
Ein bedeutendes Werk aus den zwanziger Jahren befindet sich in der so genannten Kreuzkapelle, die hoch über dem Kreuzgang der Alten Universität zwischen der Universitätsaula und dem Chor der Kirche gelegen ist: der Wandteppich von Elisabeth Coester hinter dem Altar. Er zeigt den erhöhten Herrn, der sein Leben im Sakrament austeilt und zu dem die Gebete der Gemeinde durch Engel empor getragen werden.
Der Raum der Kapelle war durch den Neubau der Universität entstanden, als nach dem Abriss der Klostermauern ein kleiner Zwischenraum, die alte Winterkirche, übrig geblieben war. Über diesem ergab sich ein neuer Raum, der zunächst als Sakristei für die reformierte Kirchengemeinde diente. Als die Sakristei 1927 in den hohen Chor verlegt wurde, richtete man hier einen neuen Andachtsraum ein: die Kreuzkapelle.
In der Kapelle, erinnert eine Bronzetafel an ein wichtiges Datum in der Geschichte der Universitätskirche nach ihrer Neugestaltung: Am 1. Oktober 1931, zeitlich nahe am Michaelstag (29. September), stifteten hier 22 Männer aus der liturgischen Berneuchner Bewegung, darunter K.B. Ritter, E. Schwebel und W. Stählin, die Evangelische Michaelsbruderschaft. Die Frage, wie das Ursprüngliche des Christentums der kritischen Jugend ihrer Zeit wieder erlebbar gemacht werden konnte, hatte die Stifter der Bruderschaft das Heilige Abendmahl als Zentrum des evangelischen Gottesdienstes wieder entdecken lassen. Und jene, die Pfarrer Ritter in die Kreuzkapelle begleiteten, hatten sich bei den Versuchen einer liturgischen Neuorientierung als eine Gemeinschaft erlebt, die in Gebet, Gottesdienstfeier und gegenseitiger Seelsorge jenes Christentum einübt, das man nachher in Vereinzelung bewähren muss. Die innerhalb der Bruderschaft gefeierte Evangelische Messe nimmt, maßgeblich durch K.B. Ritter geprägt, katholische sowie alt- und ostkirchliche Vorlagen auf, erfährt aber bis heute den Erfordernissen der Gegenwart angepasste Neuentwicklungen. An der Universitätskirche wird ihre Tradition auch heute fortgeführt, so dass sich ihr gottesdienstliches Leben durch eine besondere Vielfalt auszeichnet: Landeskirchlicher Gottesdienst, Evangelische Messe, Universitätsgottesdienst, ökumenische und musikalische Abendmessen und andere Gottesdienstformen werden in ihr gefeiert [8].
Kanzelbehang (Foto Marburg)
1933 begann auch für die Universitätskirche eine schwere Zeit. Während K.B. Ritter als Vorsitzender des Bundesrates der Bekennenden Kirche Kurhessens mehrmals verhaftet und schließlich nur durch den Mut des damaligen Direktors der Marburger Universitätsnervenklinik, Prof. Kretschmer, der ihn als verhandlungs- und vernehmungsunfähig in seiner Klinik festhielt, vor dem KZ gerettet werden konnte, war sein Kollege, Pfarrer Veerhoff, Anhänger der Deutschen Christen.
Vertreten wurde Pfarrer Ritter während der Militärzeit und des „Krankenhaus-Exils“ unter anderem von einer Frau, Claudia Bader. Als Frau konnte sie zu dieser Zeit noch nicht Pfarrerin sein, sondern durfte sich nur „Vikarin“ nennen. Anfang der fünfziger Jahre wurde sie dann aber – gegen Vorbehalte Ritters, jedoch mit deutlicher Unterstützung Friedrich Heilers (der anderen großen Gestalt der liturgischen Bewegung in Marburg) – als erste Pfarrerin der Kurhessischen Landeskirche ordiniert [9].
Das Jahr 1933 brachte auch Veränderungen für den Universitätsgottesdienst mit sich. 1932 war Friedrich Niebergall, der das Amt lange Zeit geprägt hatte, verstorben, und Ende 1933 wurde der Universitätsprediger Karl Bornhäuser emeritiert. 1934 wurde dann ein Angehöriger der Deutschen Christen als neuer Praktischer Theologe berufen. Eine Ernennung zum Universitätsprediger konnte aber vermieden werden (zu einer Neubesetzung des Amtes kam es erst 1957 mit Alfred Niebergall). Bereits 1933 hatten Rudolf Bultmann und Hans Freiherr von Soden (er leitete die Bekennende Kirche in Kurhessen-Waldeck) das bis heute übliche Verfahren eingeführt, nach dem grundsätzlich alle Mitglieder der Theologischen Fakultät Universitätsgottesdienste halten. Auch Bultmann hielt, obwohl er selbst ein Gegner der Verbindung von Universitäts- und Gemeindegottesdienst war und den akademischen Gottesdienst in den Hörsaal verlegt wissen wollte, in dieser Zeit zahlreiche Gottesdienste in der Universitätskirche, von denen die später veröffentlichten Marburger Predigten zeugen. Folgendes Zitat aus der Predigt zum 1. Advent 1939 kennzeichnet wohl die ganze Zeit unter der nationalsozialistischen Herrschaft:
Jesus stellt die Entscheidungsfrage. Das Licht, das er schenkt, ist überweltliches Licht; die Freude, die er spendet, ist überweltliche Freude. Dieses Licht, diese Freude wirklich wollen, ihm nachfolgen also, das heißt: existieren, als ob man gar nicht zu dieser Welt gehöre! Wollen wir das wirklich? (…) Wollen wir wirklich das himmlische Licht für unser irdisches Dunkel? Wollen wir eingestehen, dass unsere Welt, dass wir selbst in der Finsternis sind? Lasst uns den Ruf zur Entscheidung recht verstehen, lasst uns dem Ruf zur Nachfolge gehorchen! Wer weiß, wie lange er das Wort noch hören darf? [10]
An den Krieg erinnert das Christophorus- Fresko an der Nordseite des Altarraums, das den Heiligen in abgerissener feldgrauer Uniform zeigt, wie er das Christuskind durch einen Sumpf trägt. Gemalt wurde das Fresko 1947 von Professor Frank aus Marburg nach Entwürfen seines in der Kriegsgefangenschaft umgekommenen Freundes Franzis Bantzer.
Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wurde ein pergamentenes Buch mit den Namen aller Marburger Gefallenen angefertigt. Nach dem Diebstahl des Buches in den neunziger Jahren liegt heute die Kopie einer Abschrift unter dem von Arnold Rickert (von ihm stammt auch das Adlerpult) gestalteten Gedenkkreuz.
1954 wurde eigens für die Universitätskirche ein zweiflügliger Weihnachtsaltar von Helmuth Uhrig gestaltet, der zwischen Kanzel und Südempore seinen Platz hat. Der Altar zeigt zwischen Maria und Josef das Kind in der Krippe. Die Hirten und Könige stehen unter dem Kind und schauen zu ihm empor. Die fünf Figurengruppen aus massiven Holzblöcken sind so angeordnet, dass der zwischen ihnen freigelassene Raum den Umriss des Gekreuzigten erkennen lässt. In der Advents- und in der Fastenzeit sind die Flügel des Altars geschlossen. Zwischen Weihnachten und dem Ende der Epiphaniaszeit steht er auf dem Altartisch.
Die bisher letzte bauliche Veränderung in der Universitätskirche geschah 1995 mit der Renovierung und Neugestaltung der Kreuzkapelle zu einem hellen, lichten Raum. Die Renovierung wurde notwendig, damit der Raum seinem heute wichtigsten Zweck dienen kann: Kirche des Kindergottesdienstes („Kinderkirche“) zu sein.
2000 und später
1999 wurden durch das Bildarchiv Foto Marburg neue Aufnahmen vom Innenraum der Universitätskirche angefertigt, die auch teilweise Eingang in die Festschrift „Kirche auf dem Felsen“ anlässlich der 700-Jahrfeier der Universitätskirche gefunden haben. Ein von der obersten Westempore aufgenommenes Bild der Orgel zeigt über dem linken Querbalken des Hochkreuzes die große Aufschrift auf ihrem Prospekt: ein Wort, von dem zu hoffen ist, dass es sich einst als Leitwort der vergangenen und noch ausstehenden Geschichte des Gebäudes, seiner Menschen und Gottesdienste erwiesen haben wird:
SOLI DEO GLORIA! GOTT ALLEIN DIE EHRE!
Friedrich Dickmann/Holger Kuße
Anmerkungen
- ↑ Der Beitrag ist von H. Kuße aus verschiedenen Artikeln und Kirchenbeschreibungen z.T. zusammengestellt, z.T. auf deren Grundlage neu geschrieben worden (s. Quellen). Der erste Teil (zur Geschichte des Dominikanerklosters) stimmt weitgehend mit F. Dickmann, Ein Eckpfeiler der Stadt, überein. Der ganze Text wurde von Pfarrer Dickmann kritisch durchgesehen; zuerst erschienen in: Kirche auf dem Felsen.
- ↑ Crispinus und Crispinianus, die mittelalterlichen Schutzpatrone der Schuster, waren Brüder aus einer vornehmen römischen Familie. Vor der Christenverfolgung des Kaisers Diokletian flohen sie nach Soissons in Frankreich, wo sie das Schusterhandwerk betrieben. Sie erlitten 287 den Märtyrertod. Von ihnen wird erzählt, sie hätten Leder gestohlen, um für die Armen Schuhwerk herstellen zu können, weshalb man Wohltaten auf Kosten anderer Crispinaten nennt. Die Legende beruht aber wohl auf einem Missverständnis des Spruches: „Crispinus machte den Armen Schuh und stalt (= stellte) das Leder dazu“ (vgl. RGG 3, Bd. 1, Sp. 1882). Der Gedenktag der beiden Heiligen ist der 25. Oktober.
- ↑ Vgl. auch B. zur Nieden, Zur Geschichte des Dominikanerklosters in Marburg; in: Kirche auf dem Felsen.
- ↑ Zur mauritianischen Reform vgl. auch G. Menk, Landgraf Moritz und die Rolle Marburgs bei der Einführung der „Verbesserungspunkte“, in: Kirche zwischen Schloß und Markt. Die lutherische Pfarrkirche St. Marien zu Marburg, hrsg. von H.J. Kunst und E. Glockzin. Marburg 1997, S.48–57 [und die dort angegebene Literatur]; vgl. auch D.H. Eibach, Offen für die erneuernde Kraft des Evangeliums; in: Kirche auf dem Felsen.
- ↑ Vgl. Auch J. Renner, Die Gottesdienste in der Universitätskirche; in : Kirche auf dem Felsen.
- ↑ W. Wolff, Das gute Recht der reformierten Gemeinde zu Marburg an den Mitgebrauch der Elisabeth-Kirche. Eine geschichtliche und kirchenrechtliche Studie. Marburg 1880. Zur Besonderheit der reformierten Gemeinde vgl. auch D.H. Eibach, Offen für die erneuernde Kraft des Evangeliums; in: Kirche auf dem Felsen.
- ↑ Der Pelikan polstert seine Nester mit eigenen Brustfedern aus. In der Antike hatte man deshalb die Vorstellung, er würde sich in Notzeiten die Brust aufreißen und mit seinem Blut seine Jungen füttern. Deshalb galt der Pelikan als Sinnbild des Opfers Christi zur Erlösung der Menschheit und als Sinnbild des Heiligen Abendmahls (vgl. Wörterbuch der Symbolik, hrsg. von M. Lurker, Stuttgart 1991 (5. Auflage), S.560.
- ↑ Vgl. J. Renner, Die Gottesdienste in der Universitätskirche; in: Kirche auf dem Felsen.
- ↑ Vgl. H. Hartog, Evangelische Katholizität. Weg und Vision Friedrich Heilers, Mainz 1995, S.200f.
- ↑ Rudolf Bultmann, Marburger Predigten, Tübingen 1968 (2. Auflage), S.102 & 106; von Sodens akademische Predigten („Wahrheit in Christus. Zwölf Predigten“) wurden übrigens 1947 von H. von Campenhausen aus dem Nachlass herausgegeben.
Quellen
- F. Dickmann, Kirchenbeschreibung: Die evangelische Universitätskirche zu Marburg
- Ders., Ein Eckpfeiler der Stadt schon im Mittelalter: das Dominikanerkloster, in: Studier mal Marburg. April/Mai 1981, S. 93–94
- Ders., Es begann in Marburgs Kreuzkapelle. 50 Jahre Evangelische Michaelsbruderschaft, in: Oberhessische Presse. 30.09.1981
- Ders., Die Orgeln der Universitätskirche zu Marburg vor 1927, in: Kirche in Marburg, September 1986, S. 3–4
- Ders., Vom Dominikanerkloster zum Kollegium Lani. Ein Doppeljubiläum im Sommer 1991, in: Kirche in Marburg, Oktober 1991, S. 8–9
- F. Dickmann/H. Schmitt, Kirche und Schule im nationalsozialistischen Marburg, Marburg 1985
- K. Hammann, Rudolf Bultmann und der Universitätsgottesdienst in Marburg, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 1993, Heft 1, S. 87–116
- F. Keibel, Die Wiederherstellung der Universitätskirche zu Marburg an der Lahn anlässlich der Vierhundertjahrfeier der Universität, in: Die Denkmalpflege. Zeitschrift für Denkmalpflege und Heimatschutz, Jg. 1930, S. 17–30
- H.A. Lippert, Kirchenbeschreibung: Die evangelische Universitätskirche zu Marburg, 1998 (= Kirchenrundgang)
- K.B. Ritter: Kirchenbeschreibung: Die evangelische Universitätskirche zu Marburg, 1958
- Ders., Dreihundert Jahre Universitätskirche im Spiegel der Geschichte einer alten Marburger Familie, in: Gemeindebote der evangelischen Kirchengemeinden Marburg/L., Jg. 1958, Nr. 12, S. 8–9
- Ders., Aus einem Pfarrerleben, in: Gemeindebote der evangelischen Kirchengemeinden Marburg/L., Jg. 1960, Nr. 24, S. 4–9
- Ders., Denkschrift zum Umbau der reformierten Stadt- und Universitätskirche in Marburg, in: Kirche in Marburg, Januar 1977, S. 4–5 [Orig.: 1926]
- W. Wolff: Die evangelisch-reformierte Gemeinde in Marburg. Ein Rückblick auf ihre Entstehung und Entwicklung seit 250 Jahren, Kassel 1896
350 Jahre evangelischer Gottesdienst in der Universitätskirche (1658–2008)
Als im Sommer 1658 Hieronymus Wetzel, reformierter Prediger zu Marburg, in der „Ahm Pädagogio Uffs new reparirten Reformierten Kirch“ die erste evangelische Predigt hielt, lagen hinter der Stadt Marburg und ihrer Universität schwere Zeiten.
Angefangen hatte alles damit, dass Landgraf Philipp der Großmütige das Hessenland unter seine Söhne aufgeteilt hatte. Sein zweitältester Sohn Ludwig erhielt Oberhessen mit Gießen und Marburg. In seiner Residenz Marburg entfaltete er ein reiches höfisches Leben, das letzte in der Geschichte der Stadt. 1604 starb er kinderlos und teilte Oberhessen zwischen seinen Neffen Moritz in Kassel, der den Marburger Teil erhielt und Georg in Darmstadt auf, dem der Gießener Teil zufiel. Schon zu seinen Lebzeiten hatte der alternde Landgraf seinem Kasseler Neffen misstraut, der zum Calvinismus neigte und bereits eine entsprechende Kirchenreform in Nordhessen durchgeführt hatte. So verfügte Ludwig IV. in seinem Testament, dass derjenige seines Erbteiles verlustig gehen sollte, der das hergebrachte Luthertum in Oberhessen antastete.
Moritz von Hessen-Kassel kümmerte das nicht. Kaum hatte er das Marburger Oberhessen eingenommen, führte er mit großer Härte seine Kirchenreform durch. Renitente Beamte, Geistliche und Professoren der Universität wurden amtsenthoben und des Landes verwiesen. Sie fanden Zuflucht bei Landgraf Ludwig V. in Darmstadt, der mit ihnen 1608 in Gießen eine lutherische Gegenuniversität gegen Marburg gründete. Zudem verklagte er seinen Vetter beim Kaiser auf Bruch der Testamentsbestimmungen und forderte das Marburger Oberhessen für Darmstadt ein. Er bekam Recht, sodass im Zuge des Dreißigjährigen Krieges Marschall Tilly mit kaiserlichen und südhessischen Truppen 1624 Marburg besetzte. Das Luthertum und die einheitliche lutherische Landesuniversität wurden wieder hergestellt. Erst in den allerletzten Jahren des Krieges gelang es Hessen-Kassel, wieder in den Besitz von Marburg zu kommen, und salomonisch legte der Westfälische Friede fest, dass zwar das Marburger Oberhessen lutherisch bleiben müsse, aber zurück nach Hessen-Kassel komme. Unter diesen Bedingungen war das Darmstädter Fürstenhaus nicht bereit, seinen Anteil an der hessischen Landesuniversität in Marburg zu belassen und verlegte seine Landesuniversität nun endgültig nach Gießen. Das Marburger Universitätserbe trat die niederhessisch-reformierte Kasseler Akademie an, als sie 1653 nach Marburg verlegt wurde. Der eigenartige Fall trat ein, dass sich eine reformierte Universität in einer lutherischen Stadt befand.
Seit der 1646 erfolgten kriegerischen Wiederbesetzung Marburgs durch Hessen-Kassel entstand dort eine kleine, aber ständig wachsende reformierte Gemeinde aus Beamten, Militär und Juristen, die von einem Feldprediger Bartholomäus Thomas bis 1653 betreut wurde. Seine reformierten Gottesdienste fanden zunächst in der Schlosskapelle statt, später in der etwas größeren Kugelkirche, die zur Stipendiatenanstalt gehörte. Doch als die nunmehr reformierte Philipps-Universität wieder eröffnet würde, reichte auch sie nicht mehr aus.
Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel, der von 1650 bis 1663 regierte, nahm sich in besonderer Weise der anwachsenden Gemeinde an. Er bestellte Hieronymus Wetzel als Seelsorger und Prediger für die Gemeinde und bestimmte, dass ein Professor der Theologie Universitätsprediger und zweiter Pfarrer der Gemeinde sein sollte. Dies wurde Sebastian Curtz, der bis 1684 wirkte. Wetzel betreute die Gemeinde von 1653 bis 1668. Sein besonderes Wohlwollen für die Gemeinde bekundete der Landgraf durch Geschenke silberner Abendmahls- und Taufgeräte, die bis heute noch in der Universitätskirche in Gebrauch sind.
Abendmahlskanne von 1663 (Bildarchiv Foto Marburg)
Die wichtigste Gabe Wilhelms VI. an die Gemeinde aber war, dass er die völlig verwahrloste und zum Kornspeicher umfunktionierte Dominikanerkirche am Lahntor zum evangelischen Gottesdienst herrichten ließ. Der Fürst überwachte selbst den Einbau der Emporen und die Verteilung des Gestühls. Jeder Stand der Gemeinde sollte seinen eigenen Sitz haben, der Hof, die Professoren, die Studenten, die Zöglinge des Pädagogiums, die Bürgerschaft, die Juristen des hessischen Samtgerichtshofes auf dem Schloss, die Garnison und die reformierten Insassen der Deutsch-Ordens-Kommende. Es sollte durch diese Sitzordnung deutlich werden, dass alle diese verschiedenen Stände durch das eine reformierte Bekenntnis fest miteinander verbunden sind. Mehrere Jahre hat die Wiederherstellung der Kirche gedauert, bis sie 1658 durch die landgräfliche Regierung in Marburg der Universität und Gemeinde übergeben wurde. Wie damals das Innere der Kirche ausgesehen hat, weiß man nicht mehr. An die Ausstattung Wilhelms VI. erinnern heute nur noch die massive Steinplatte auf Eichenfüßen des Abendmahlstisches, die prächtige Kanzel und das Gewände des Taufbrunnens. Es soll auch eine Orgel gegeben haben, erbaut von dem Schmalkaldischen Orgelbauer Kaspar Lehmann.
Streng geregelt war die Reihenfolge des Abendmahlsempfangs der einzelnen Stände, wie aus einer Verordnung des Jahres 1706 hervorgeht. Zuerst die Ratsherrn, die unter dem Chor saßen, dann die Professoren auf der Empore darüber, dann der Hof und die Regierung auf der Westempore, dann die Bühne der Gerichtsbehörden, schließlich die Studenten, Beamten, Offiziere und Soldaten der Garnison, die Bürger und Zöglinge des Pädagogiums im Mittelschiff und an den Seiten. Gründonnerstags und zusätzlich viermal im Jahr fanden die Abendmahlsfeiern statt. Das Presbyterium der Gemeinde, dem stets zwei Deputierte der Universität angehörten, hatte über das sittliche und gottesdienstliche Leben der Gemeinde und der Universitätsangehörigen zu wachen und das Gemeindevermögen zu verwalten. Darüber hat es oft viel Streit gegeben, denn weder die Universität noch das Militär wollten sich einer kirchlichen Überwachung unterordnen.
Kirchenstatistiken von damals gibt es nicht, doch war 1653 die Gemeinde offensichtlich so gewachsen, dass eine reformierte Schule und 1690 ein reformiertes Waisenhaus eingerichtet werden mussten. Die Schule hat bis 1824 bestanden und befand sich zeitweilig im Kugelhaus, im Waisenhaus am Lahntor (heute Landgrafenhaus) und seit 1671 im Kilian. Zwei Lehrer waren an der Schule beschäftigt, die zugleich den Kantoren- und Küsterdienst versahen. Eine wichtige Rolle im Gemeindeleben spielte die Stipendiatenanstalt, die im Kugelhaus, der sogenannten Propstei, untergebracht war. Stipendiaten beteiligten sich stets musikalisch am Gottesdienst der Universitätskirche. Die Stipendiatsmajoren, später Repetenten genannt, mussten regelmäßig einmal wöchentlich in der Kugelkirche für die Stipendiaten predigen und an den zweiten Feiertagen in der Universitätskirche.
Auch übernahmen sie Unterricht im Pädagogium. Es würde zu weit führen, der langen Geschichte des evangelischen Gottesdienstes an der Universitätskirche im einzelnen nachzugehen, vieles müsste auch lückenhaft bleiben. Eine reformierte Kirche ist eine Kirche, die sich ständig an den Ansprüchen der heiligen Schrift überprüft und dabei zu neuen Lebensformen gelangt. Dies ist in der Universitätskirchengemeinde im reichen Maße geschehen, zumal da sie als Diaspora in einer lutherischen Stadt Jahrhunderte lang zu Toleranz und Vielfalt verpflichtet war. Heute ist die Universitätskirche als Stätte der Ökumene und des gottesdienstlichen Reichtums nicht aus dem Mosaik der Kirche in Marburg wegzudenken und dafür sollte man dankbar sein.
Friedrich Dickmann
Der russische Aufklärer Michail Vasilevič Lomonosov und die Universitätskirche
An der Alten Universität, nur ein paar Schritte von der Universitätskirche entfernt, erinnert eine Gedenktafel an den Marburger Studienaufenthalt des russischen Aufklärers und Universalgelehrten Michail Vasilevič Lomonosov (1711–1765). Auf der Tafel sind Verse aus einer Ode an die Zarin Elisabeth (1741–1762) zu lesen:
Βезде исследуйте всечасно,
Что есть велико и прекрасно,
Чего еще не видел свет.Überall erforschet ohne Unterlass,
Was herrlich ist und wunderschön,
Was die Welt noch nicht geseh’n.(Ode vom 27. August 1750, in: Werke, Bd. 8, Moskau/Leningrad 1959)
Aufgang Alte Universität an der Untergasse
Am Aufgang ist die Gedenktafel für M.V. Lomonosov zu sehen
Wenig bekannt ist, dass Lomonosov, der zusammen mit zwei weiteren russischen Studenten zwischen 1736 und 1741 in Marburg studierte, auch zur Universitätskirche eine enge Verbindung hatte. Denn hier hat er am 6. Juni 1740 die Marburger Bürgerin Elisabeth Christiane Zilch geheiratet. Ihre erste Tochter, Catharina Elisabeth, war am 19. November 1739 in der Universitätskirche getauft worden und am 1. Januar 1742 wurde hier auch der Sohn Johannes getauft, der aber schon einen Monat später starb.
Eintragung im Immatrikulationsverzeichnis der Marburger Universität vom 17. November 1736
Lomonosov hat während seines Studienaufenthalts bei der Familie Zilch gewohnt, die zur niederhessisch reformierten Kirche und damit zur Gemeinde der Universitätskirche gehörte. Der Vater Elisabeths, Heinrich Zilch (gest. zwischen 1732 und 1739), stammte aus Solz bei Bebra, war dort Gutsverwalter gewesen und wurde in Marburg Bierbrauer. Er gehörte dem Stadtrat an und war Kirchenältester der reformierten Gemeinde.
Eintrag im Kirchenbuch der reformierten Gemeinde über die Heirat Michail Lomonosovs und Elisabeth Zilchs am 6. Juni 1740
Eintragungen im Kirchenbuch der reformierten Gemeinde zur Taufe und zum Begräbnis des Sohnes Johannes (1. Januar und 7. Februar 1742)
Wo Lomonosov tatsächlich gewohnt hat, ist nicht ganz sicher: Wahrscheinlich befand sich das Haus an der Ecke Barfüßerstraße/Heumarkt
Barfüßerstraße/Heumarkt
Möglich ist aber auch das große Fachwerkhaus in der Wendelgasse, an dem heute eine kleine Tafel an ihn erinnert.
Wendelgasse
Der Weg nach Marburg
Lomonosov wuchs im Gouvernement Archangel’sk auf der Insel Kurostrov als Sohn eines Fischers auf. Dort kam er in Kontakt mit der Gemeinschaft der „Altgläubigen“ (auch: „Altritualisten“), die sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts gegen liturgische und orthographische Reformen in der Russisch-Orthodoxen Kirche gewandt hatten und deshalb andauernden Verfolgungen ausgesetzt waren. In einer weitgehend analphabetischen Umgebung dürfte das Schrifttum dieser Kirche zu den Grundlagen von Lomonosovs Bildung gehört haben. Ihre Verfolgung seitens des Staates und der offiziellen Kirche und ihre beeindruckende Frömmigkeit haben wahrscheinlich seine spätere Trennung von Welt und Glaube, Wissenschaft und Religion beeinflusst. Er konnte aber der Weltverneinung und Skepsis der Altgläubigen gegenüber jeder Art von Erneuerung und Modernisierung nicht folgen. Während sie die Westöffnung Russlands unter Peter I. (1685–1762) ablehnten, hat Lomonosov den „Reformzaren“ zeit seines Lebens tief verehrt. Er war ein „Mensch aus Peters Nest“, wie der russische Kulturologe Jurij Lotman die von den Petrinischen Reformen geprägte russische Elite des 18. Jahrhunderts genannt hat.
Peter I. (1672–1725)
1730 schloss sich Lomonosov einem Handelszug nach Moskau an, wo er 1731 in die 1685 gegründete „Slavisch-griechisch-lateinische Akademie“ aufgenommen wurde. 1734 wechselte er an die Akademie in Kiev und erhielt 1735 die Möglichkeit zum Studium an der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, von wo er wiederum ein Jahr später, 1736, mit den Kommilitonen Gustav Ulrich Raiser und Dmitrij Vinogradov zum Studium nach Deutschland gesandt wurde. Das eigentliche Ziel der russischen Studenten war die Bergakademie im sächsischen Freiberg, denn die Akademie suchte vor allem Metallurgen und Bergleute für Expeditionen nach Sibirien. Zu einer Art Propädeutikum gingen sie jedoch zuerst nach Marburg an der Lahn, wo der damals weltberühmte Christian Wolff (1679–1754) die Betreuung der Gaststudenten zugesagt hatte. 1739 reisten sie nach Freiberg ab. Für Lomonosov wurde es jedoch ein nur kurzer Aufenthalt von Juli 1739 bis Mai 1740. Aus Unzufriedenheit mit seinem Lehrer, dem Bergrat J.F. Henckel, mit dem er sich schnell überwarf, kehrte er eigenmächtig nach Marburg zurück. Unterwegs geriet er in die Fänge preußischer Soldatenwerber, denen er nur knapp entkam. 1741 verließ Lomonosov Marburg. In Russland hatte er seine Ehe mit Elisabeth Zilch zunächst verschwiegen, und es dauerte zwei Jahre bis sie 1743 zusammen mit der ersten Tochter und ihrem Bruder auch nach Petersburg übersiedeln konnte. 1749 wurde die zweite Tochter, Elena, geboren.
Der Universalgelehrte
Lomonosov studierte in Marburg unter anderem Chemie bei J.G. Duising und Philosophie bei Christian Wolff, der ihn in seinem Denken nachhaltig beeinflusste. Wolff vertrat die radikal aufklärerische Position, in einem vernünftigen klar rationalen Diskurs alles erklären zu können. Die „Welt-Weisheit“ (Philosophie) definierte er als „Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind“. Und von diesem Anspruch zeugen auch die Titel seiner wichtigsten Werke: „Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit“ (1713); „Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen“ (1720); „Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen“ (1721)
Christian Wolff (1679–1754)
Haus von Christian Wolff an der Marktgasse
Lomonosov folgte Wolff in seinem radikalen Erklärungsanspruch. Aber er war auch Naturwissenschaftler, und zahlreiche philosophische Bemerkungen finden sich charakteristischer Weise nicht in eigenständigen philosophischen Schriften, sondern im Rahmen naturwissenschaftlicher Abhandlungen: zur Planetenbeobachtung, zur Metallurgie, zur Chemie und vor allem zur Physik. Lomonosov wollte sich in diesen Forschungen wissenschaftstheoretischer Grundlagen vergewissern. Dazu reichte ihm das Denksystem Wolffs bald nicht mehr aus. Anders als dieser vertrat er einen atomistisches Weltbild. Schon in Marburg entwickelte er in Ansätzen seine „Korpuskulartheorie“: Alle Materie sei aus kleinsten unteilbaren Teilen zusammengesetzt, den Korpuskeln. Werden diese Ur-Teilchen gefunden, so ließe sich die ganze materielle Welt erschöpfend erklären. Lomonosov beanspruchte aber nicht, damit auch die Welt des Geistes und der Religion erfassen zu können. Er war ein Universalgelehrter, der für alles zwar die gleichen Prinzipien des Denkens annahm, aber den verschiedenen Wissensbereichen unterschiedliche Erkenntnisaufgaben und gesellschaftliche Funktionen zuwies. Denn in allem, was er tat, fragte Lomonosov nach dem gesellschaftlichen Nutzen, den es bringen sollte. Das entsprach ganz dem Geist der Reformen unter Peter I. Dieser hatte gefordert: „Adlig ist, wer nützlich ist“. Lomonosov sagte in einer „Lobrede auf den Nutzen der Chemie“ (1751):
Wenn ich über das Wohlergehen des menschlichen Lebens nachdenke, meine Zuhörer, so finde ich nichts Vollkommeneres, als durch angenehme und untadelige Arbeiten Nutzen zu bringen.
(Werke, Bd. 2, Moskau/Leningrad 1952)
Die Naturwissenschaften sollten zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands beitragen. Lomonosov war beteiligt am aufkommenden Hüttenwesen. Er gründete Mosaikfabriken (deren Direktor sein Schwager wurde) und war maßgeblich an der Gründung der Moskauer Universität beteiligt, die in der Sowjetunion nach ihm benannt wurde und bis heute seinen Namen trägt.
Nicht weniger wurde Lomonosov jedoch auch als Dichter (unter anderem von Oden auf das Herrscherhaus), als Verfasser einer Geschichte Russlands und ganz besonders der ersten Russischen Grammatik (1755) bekannt. Mit einem gewissen Humor stellte er in deren Vorrede das Russische den westeuropäischen Sprachen nicht nur gleich, sondern stellte es an Ausdrucksstärke und ‑vielfalt über alle anderen Sprachen.
Karl V., Kaiser des römischen Reiches deutscher Nation, sagte, es sei gut, mit Gott spanisch, französisch mit Freunden, deutsch mit Feinden und italienisch mit Frauen zu reden. Hätte er aber Russisch gekonnt, wäre er mit dieser Sprache ausgekommen, denn es verfügt über die Größe des Spanischen, die Lebendigkeit des Französischen, die Festigkeit des Deutschen und die Zärtlichkeit des Italienischen, und außerdem noch über den Reichtum des Griechischen und Lateinischen.
(Werke, Bd. 7, Moskau/Leningrad 1952)
Titelblatt der Russischen Grammatik von 1755.
Das Frontispiz (links) zeigt den aufklärerischen Anspruch: Sonnenlicht (das Licht der Aufklärung) erhellt die Allegorie der Grammatik und das aufgeschlagene Grammatikbuch. In der Sonne ist das Monogramm Elisabeth I. zu sehen, deren
Züge auch die Allegorie der Grammatik trägt.
Titelblatt der deutschen Übersetzung von Lomonosovs Grammatik (1764)
Religion und Kirche
Für Lomonosov war die freie Diskussionsgemeinschaft, in der wissenschaftliche Resultate immer nur unter dem Vorbehalt ihrer möglichen Widerlegung Geltung haben durften, für die Forschung unabdingbar.
Deshalb verteidigte er die Autonomie der Wissenschaften gegenüber dem religiösen Glauben und der Autorität der biblischen Schriften, ohne deren Wahrheit zu verneinen. Lomonosov trennte religiöses und wissenschaftliches Denken voneinander. Für ihn gab es zwei „Bücher“, die unterschiedlich zu lesen seien und die unterschiedliche Aufgaben hätten: Das „Buch der Bibel“ und das „Buch der Natur“. Das „Buch der Natur“ offenbare die Größe Gottes, die Bibel hingegen seinen Willen. In dieser Aufgabenteilung wurden die Natur und ihre Erforschung für Lomonosov sogar zum Evangelium: Wer in das Innere der Schöpfung eindringe und deren Teile in ihren Ordnungen und wechselseitigen Verbindungen erkenne, der erhebe sich nicht nur auf leichten Flügeln entzückt zum Himmel, sondern erlebe „Vergöttlichung“ (in der „Programmschrift“ von 1746, in: Werke, Bd. 1, Moskau/Leningrad 1950).
Bei seinem Marburger Aufenthalt muss Lomonosov von den dortigen Pfarrern sehr beeindruckt gewesen sein. Sie erfüllten wohl seinen Anspruch an das geistliche Amt, den Willen Gottes zu verkünden und zum Nutzen aller beispielhaft vor zu leben. Jedenfalls verfasste er um 1761 eine Denkschrift „Über die Pflichten der Geistlichkeit“, in der er den „evangelischen Pfarrer“ zum Vorbild erklärte:
Die Pastoren lehren in ihren kirchlichen Grundschulen den Kindern, die das ABC lernen, Gottes Gebote mit aller gebührenden Strenge und Eifer. Und bei der Konfirmation vor dem ersten Abendmahl prüfen sie sie zuerst in der Schule und dann in der Kirche über die christliche Lehre. Und wenn einer sich nicht genügend auskennt, wird er nicht zum Abendmahl zugelassen, wo vor sich die Kinder derart fürchten, dass sie alles daran setzen, Gottes Gebote zu kennen und zu erfüllen. (…) Jeder hat dort einen Katechismus, ein Gebetbuch und eine Bibel.
(Werke, Bd. 6, Moskau/Leningrad 1952)
Holger Kuße
Michael Wassiljewitsch Lomonossows Aufenthaltsorte in Marburg
Wilhelm A. Eckardt hat das Verdienst, in seinen beiden Beiträgen Christian Wolff und die hessischen Universitäten (Marburg o.J.) und Lomonossow in Marburg (Mitteilungen des Hessischen Geschichtsvereins 1991 Neue Folge Nr. 22) den Aufenthaltsorten des russischen Universalgelehrten in Marburg nachgegangen zu sein. Er kommt dabei zu folgendem Ergebnis:
Am 17. November 1736 wurde Lomonossow in Marburg immatrikuliert. Sein älterer Freund und späterer Petersburger Kollege Professor Jakob von Stählin (1709–1785) berichtet, Lomonossow habe bei der Witwe des Marburger Bürgers Heinrich Zielch und deren Kindern gewohnt. Heinrich Zielch war ein ziemlich wohlhabender Marburger Bierbrauer und war bereits drei Jahre tot, als Lomonossow nach Marburg kam. Einer Tochter der Witwe Zielch, Elisabeth Christine, wurde 1739 eine uneheliche Tochter Katharina Elisabeth geboren, die Lomonossow durch spätere Heirat legitimierte. Doch wo ist die Studentenwohnung Lomonossows bei der Witwe Zielch gewesen?
Man hat lange Zeit angenommen, dass es das stattliche Haus Barfüßerstraße 47 (Haus Arcularius) gewesen sein müsse, wo 1772 ein Akziseschreiber Leutnant Johannes Zielch als Bewohner genannt wurde. Ihn hat Kurt Stahr in seinem Marburger Sippenbuch (Bd. 23 Nr. 37732 und 37735) mit dem Bruder der Elisabeth Christine Lomonossow geb. Zielch identifiziert. Doch der Akziseschreiber starb in Marburg am 25. Juli 1784 im Alter von 64 Jahren. Er muss also im Jahre 1720 geboren sein. Doch Lomonossows Schwager, der Bruder Elisabeths Christines geb. Zielch, ist bereits am 21. Oktober 1714 geboren worden. Außerdem stammt der Leutnant und Regimentsquartiermeister im Husarencorps Johannes Zielch nach den Ancienitätslisten von 1764 nicht aus Marburg, sondern ist ein Schulmeistersohn aus Mühlbach. So kommt das Haus Arcularius an der Barfüßerstraße als Studentenwohnung Lomonossows nicht in Frage.
Das Verzeichnis der Marburger Bürger und Beisassen (Mieter), das um das Jahr 1720 angelegt wurde und sich im Stadtarchiv befindet, nennt für das heutige Anwesen Barfüßerstraße 35 als Hausbesitzer einen Registrator Abel und als Beisassen in seinem Hinterhaus Wendelgasse 2 Heinrich Zielch, dessen Schwägerin Maria Segelin, sowie Sergantin Rezin und einen Andreas Jung. Von 1726–1729 zahlte Ökonom Abel Grundsteuern für seine Anwesen an der Barfüßerstraße, in der Wendelgasse, am Rübenstein und in der Krebsgasse. Seine Witwe setzte die Zahlungen von 1730 bis 1744 fort, von 1745 bis 1765 war es der Ökonom Scheffer, von 1766 für ein Jahr die Witwe Scheffer, von 1767 bis 1772 war es Obervogt Schmidt, während das Nummernbuch von 1770/71 für das Anwesen Wendelgasse 2 immer noch 1776 Scheffer als Eigentümer nennt.
Das Haus Wendelgasse 2 mit Gedenktafel heute (Fotos: Wikipedia)
1741 ist Lomonossow nach Russland zurückgerufen worden. Er hatte am 6. Juni 1740 Elisabeth Christine Zielch geheiratet. Die junge Ehefrau blieb mit ihrem Bruder Johann in Marburg bis zum Tode ihrer Mutter Katharina Elisabeth Zielch. Nach den Marburger Kämmereirechnungen hat die Witwe Heinrich Zielchs bis 1745 ½ Pfund Bürgerschilling gezahlt, 1747 und 1748 taten es ihre Kinder, danach sind keine Zahlungen mehr vermerkt. Frau Elisabeth Lomonossow und ihr Bruder Johannes Zielch müssen also 1748 Marburg verlassen haben. Eine Eintragung des Todes von Witwe Katharina Zielch findet sich in den Marburger Sterberegistern nicht.
Lomonossow hat in Marburg im Hause seines Lehrers Christian Wolff verkehrt, dort Vorlesungen gehört und ist dort zu Mittag verköstigt worden. Eine Marmortafel am repräsentativen Eckhaus Marktgasse 17 weist aus: Christian Wolff / Prof. d. Philos. / 1723–1740. Zur 350-Jahrfeier der Universität hat das Jubiläumskomitee beschlossen, Gedenktafeln an die Wohnhäuser berühmter Vertreter der Universität anbringen zu lassen. Der Altphilologe und Leiter der Universitätsbibliothek Julius Caesar wurde mit der Durchführung der Aktion betraut, aber in den Akten findet sich keine Begründung, warum Marktgasse 17 Wolffs Wohnung gewesen sein soll.
Dabei ist die Besitzgeschichte des Anwesens Marktgasse 17 gut bekannt. Am 19. April 1692 kaufte Bernhard Wilhelm Riemenschneider (1671–1709) das Haus von den Erben des Professors Dr. jur. Hermann Vultejus für 13.000 Reichstaler. Die Gedenktafel für Vultejus befindet sich ebenfalls an dem Haus. Nach seinem Tod kam das Haus in den Besitz seiner Witwe und dann seines Sohnes Heinrich Anton Riemenschneider (1699–1772). Hier kann Wolff mit Sicherheit nicht gewohnt haben, denn 1730 bat der Kasseler Regierungspräsident Johann Kaspar von Dörnberg Professor Wolff, seinen Sohn bei sich aufzunehmen. Doch Wolff antwortete am 4. Mai, dass er den jungen Herrn gerne in seine Tischgemeinschaft aufnehme, aber in seinem Hause könne er ihn wegen Platzmangel nicht unterbringen. Er wolle sich aber um ein Quartier bemühen. Am 21. Mai 1730 konnte er vermelden, dass der junge Herr von Dörnberg und sein Hofmeister bey dem jungen Riemschneider in Marckt-Straße unterkommen könnte.
Vom 14. bis 17. September 1731 besuchte Landgraf Friedrich I. von Hessen-Kassel, gleichzeitig König von Schweden, die Universitätsstadt Marburg. Die Stadt wurde zu diesem Anlass festlich illuminiert. Die Feierlichkeiten und damit auch die festliche Beleuchtung der Stadt sind in der Broschüre Ausführlich Beschreibung der Solemnitäten bey höchst beglückter Ankunfft Sr. Königlichen Majestät in Schweden nach Marburg. Marburg 1731 genau geschildert. Darin ist besonders die Illumination von Wolffs Haus hervorgehoben. An der Hauptfront des Hauses gegen das Schloss hin befand sich eine Inschrift mit goldgelben Buchstaben auf rotem Grund, das die ganze Illumination erklärt, eingerahmt von sieben bildlichen Darstellungen. In Richtung Markt waren die Weisheit und Liebe bildlich dargestellt. Die Front zum Markt hin war offenbar schmaler als die gegen das Schloss. Im Seitengebäude, so heißt es weiter, hätten die beiden kleinen Söhne Wolffs Ferdinand und Christian Transparente mit Bildern aus der Mythologie hinter den Glasscheiben ihrer Stubenfenster angebracht, die von Fachleuten mit Öl durchsichtig gemacht, wie Transparente gegen das Licht wirken.
Das Haus Marktgasse 17 hat keine Front hin zum Schloss und hin zum Markt. Als Wohnhaus von Professor Wolff galt auch lange Zeit das große Haus Markt 22 am Obermarkt/Ecke Ritterstraße, das 1737 dem Ratsschöffen und Pastetenbäcker Konrad Geißler gehörte. Doch dieses Haus hat keine Seitengebäude. Konrad Geißler hat 1739 vier Albus Zins zahlen müssen von Herausrückung der Mauer unter seinem neun Hauß. Hätte Wolff dort gewohnt, wäre wohl kein neues Gebäude errichtet worden.
In den Gebäuden Markt 23 (Bildmitte rechts) und Markt 24 (links) wohnte vermutlich Professor Christian Wolff. Das verwahrloste Nebengebäude wurde 1957 abgerissen. (Foto: Küch/Niemeyer, Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Kassel, Band 8. Kassel 1934) |
Die richtige Lage mit vier Fenstern je Stockwerk in der Hauptfront in Richtung Schlosstreppe und zwei Fenstern je Stockwerk im vorspringenden Teil in Richtung Markt hat das Anwesen Markt 23, das heute die Brüder-Grimm-Stuben beherbergt, Das Nachbarhaus Markt 24 gehörte zu Wolffs Zeiten als Nebengebäude dazu. Es wurde 1957 abgebrochen. Unter diesem Haus hat man vor Jahren die Grundmauern der mittelalterlichen Synagoge entdeckt und der Öffentlichkeit unter einem Glaswürfel zugänglich gemacht.
Zu Wolffs Zeiten gehörten beide Häuser Oberleutnant Benedict v. Düring. Der hatte in das Gut Friedelhausen bei Gießen eingeheiratet und wohnte auch dort mit seiner Familie. So standen seine Marburger Häuser leer und konnten vermietet werden. Dort dürfte Professor Christian Wolff zur Miete gewohnt haben, und dort wird auch Michael Wassiljewitsch Lomonossow ein- und ausgegangen sein.
Friedrich Dickmann