Dominikanerkloster mit Kirche (Foto: Ludwig Bickell, um 1875; Bildarchiv Foto Marburg)
Den Experten gewiss bekannt, wurden sie beim Stöbern in den Gemäuern der Universitätskirche von Weidenhäuser Schulkindern wieder entdeckt: die Zellenfenster des ehemaligen Dominikanerklosters am Lahntor, der heutigen Alten Universität. Die kleinen Fenster sind unter dem Dachgebälk des neugotischen Kreuzganges verborgen, der an der Westwand der Universitätsaula vorbeiführt und deren Eingangshalle bildet. Die mit Ziegelsteinen zugemauerten Fenster ähneln mit ihren Rahmen aus behauenen Sandsteinblöcken den Zellenfenstern am Kugelhaus und am ehemaligen Franziskanerkloster „Am Plan“, das heute der Universität als Seminargebäude dient. Manche der Zellenfenster, hinter denen die Dominikaner lebten, zeigen noch die alte Vergitterung, an allen sind noch die Verankerungen von Holzläden zu sehen, mit denen einst bei rauer Witterung die Fenster geschlossen wurden.
Das Kloster existiert nicht mehr. Die Dominikaner mussten Marburg 1527 verlassen, das Gebäude wich Ende des 19. Jahrhunderts dem Neubau der Universität. Geblieben ist jedoch die Kirche, die bei der Neugestaltung der Universität als Wahrzeichen der Stadt unangetastet blieb. Auf der Südseite des Schiffs, hoch unter dem Gewölbe erinnert eine Inschrift an die drei entscheidenden Daten ihrer bisherigen Geschichte:
Im Jahre 1300 begonnen
1291 hatte Landgraf Heinrich I. von Hessen den Mönchen des Predigerordens vom Heiligen Dominikus Land am Lahntor über der Weidenhäuser Brücke zum Bau eines Klosters zur Verfügung gestellt. Um 1300 entstand auf dem Felsen über der Lahn der hochragende Chor der Dominikanerkirche und ein sich im rechten Winkel an den Chor der Kirche anschließendes Klostergebäude, das Küche, Esssaal, Schlafsaal und die Zellen der Mönche enthielt. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs das Kloster, bis es im Jahre 1521 den Umfang der heutigen Alten Universität erlangt hatte, die vom Rudolphsplatz, dem Lahntor, der Reitgasse und dem Kornmarkt umschlossen wird. Die Klosterkirche selbst blieb jedoch ein baulicher Torso. Der hochragende Chor bricht plötzlich ab, ein flaches Kirchenschiff mit einem Seitenschiff hinter dicken Säulen schließt das Ganze völlig unorganisch ab.
Zu seinen besten Zeiten lebten etwa 25 Mönche im Kloster, das unter der Leitung eines Priors und eines Subpriors stand. Als Bußprediger sahen sie sich wie Johannes der Täufer als „Rufer in der Wüste“, und so gaben sie ihrer Klosterkirche den Namen Johannes des Täufers.
Der Tageslauf der Mönche war durch vier Gebetszeiten geregelt, zu denen man sich im Chor der Kirche traf. Nach dem Willen des Ordenstifters Dominikus war es die Aufgabe der Predigermönche, der christlichen Gemeinde mit Verkündigung und Seelsorge zu dienen. Die Zeit im Kloster sollte zum Bibelstudium, zu theologischer Arbeit und zur Pflege der Frömmigkeit ausgenutzt werden. Der regelmäßige Besuch der Armen, Kranken, Verlassenen und Sterbenden in der Stadt und ihrer Umgebung war den Mönchen Pflicht.
Die Mönche durften keinen persönlichen Besitz haben. Alles gehörte der Klostergemeinschaft. Wie Johannes der Täufer sollten sie ausschließlich von Spenden und milden Gaben der Gläubigen leben, die ihnen freiwillig gereicht wurden. Aus den Gabenverzeichnissen des Klosters, die im Staatsarchiv lagern, wissen wir, dass die Dominikaner in Marburg wegen ihrer Frömmigkeit sehr beliebt waren und darum auch ihre Kirche reich ausstatten konnten. So befand sich im Hohen Chor ein Schnitzaltar, wahrscheinlich ein Johannesaltar, an dem täglich die Messe gelesen wurde. Ein Steinbogen in der Chorwand unter der heutigen Orgelempore kennzeichnet noch den Platz, an dem während der Messe die zelebrierenden Priester saßen. Daneben befindet sich ein sehr verblasstes Wandgemälde, das einen Dominikanermönch in seiner schwarz-weißen Kutte zeigt, der anbetend vor der Madonna mit dem Kinde kniet. Die Schrift des Spruchbandes in seinen Händen ist nicht mehr zu entziffern. Ein Wappenbild, das einen großen Schwan auf dem Gemälde zeigt, lässt vermuten, dass ein Glied der berühmten Kaufmanns- und Bürgermeisterfamilie Schwan aus Marburg Stifter des Bildes gewesen ist. Nach der Familie Schwan haben die Schwanallee und der Schwanhof in Marburg ihre Namen erhalten.
Am Hochaltar wurden auch die Sterbemessen für die Mitglieder der St.-Jakobs-Bruderschaft gelesen, die das Gotteshaus St. Jakob in der Weidenhäuser Straße unterhielt.
Vor einer Marienstatue im Chor brannte ein ewiges Licht, und die Schusterinnung entzündete täglich Opferkerzen vor der Schnitzfigur ihres Schutzpatrons St. Crispin, die ebenfalls im Chore stand ((Crispinus und Crispinianus, die mittelalterlichen Schutzpatrone der Schuster, waren Brüder aus einer vornehmen römischen Familie. Vor der Christenverfolgung des Kaisers Diokletian flohen sie nach Soissons in Frankreich, wo sie das Schusterhandwerk betrieben. Sie erlitten 287 den Märtyrertod. Von ihnen wird erzählt, sie hätten Leder gestohlen, um für die Armen Schuhwerk herstellen zu können, weshalb man Wohltaten auf Kosten anderer Crispinaten nennt. Die Legende beruht aber wohl auf einem Missverständnis des Spruches: „Crispinus machte den Armen Schuh und stalt (= stellte) das Leder dazu“ (vgl. RGG 3, Bd. 1, Sp. 1882). Der Gedenktag der beiden Heiligen ist der 25. Oktober.)). Nach der Reformation soll die Figur des Hl. Crispin aus der Kirche in den Kilian gewandert sein, wo die Schuster ihre Zunftstube hatten. Bei Auflösung der Schusterzunft im Jahre 1809 ist die Figur an einen Marburger Schuster versteigert worden. Seitdem ist sie verschwunden.
Im Seitenschiff zur Reitgasse hin befand sich der Severinsaltar, dessen Altarnische heute noch in der Wand neben dem Kirchenvorstandsgestühl der Universitätskirche (heute Platz des Kindergottesdienstes) zu sehen ist. Hier hielten die St.-Severins-Bruderschaft und die Rosenkranz-Bruderschaft ihre Gottesdienste ab und stifteten ihre Kerzen.
Die Bruder- und Schwesternschaften des Mittelalters zur Pflege der Frömmigkeit und Übernahme sozialer und geselliger Aufgaben sind entfernt mit den Gemeindekreisen heutiger Kirchengemeinden vergleichbar, obwohl ihre Organisationsform völlig anders war. Dass die Schusterzunft und drei Bruderschaften ihre Heimat in der Dominikanerkirche hatten, zeigt die lebendige Seelsorge- und Gemeindearbeit der Mönche.
Großen Zulauf fanden auch die Predigten der Dominikaner, die sonntags von 12 bis 13 Uhr in der Kirche gehalten wurden, und die Bet-Sing-Messen, die donnerstags und samstags zur Pflege der Volksfrömmigkeit stattfanden. Auch ließen die Marburger gerne ihre Seelen- und Gedächtnismessen für Verstorbene von Priestern des Dominikanerordens lesen, was die vielen Stiftungen und Schenkungen an das Kloster beweisen. Im Jahre 1459 muss die Dominikanerkirche sogar eine Orgel gehabt haben, denn in einer Schenkungsurkunde heißt es:
Johann Ouinckus gibt dem Bruder Heinricus Mengelonis, Prior, Ludwig Bodirklois und den übrigen Herren und Brüdern des Predigerordens 100 Gulden zu einem Testament. Dafür sollen sie jeden Donnerstag auf dem hohen Altar ihrer Kirche eine Singmesse halten „de Corpore Christi“ mit Orgelspiel und der Sequenz „lauda Sion“ oder einigen Versen daraus, „ecce panis angelorum“ nach Gelegenheit der Zeit. 1459, in die assumptionis virgines gloriose.
Nach dieser Urkunde soll an jedem Donnerstag am Hochaltar der Universitätskirche eine Messe nach der Fronleichnamsliturgie gefeiert werden, wobei die Gesänge „Lobe Zion, deinen Erlöser“ und „Siehe das Engelsbrot“ angestimmt werden sollen. Die Urkunde wurde am Tage Mariä Himmelfahrt (15. August) 1459 ausgestellt.
Einen Einblick in die Art mittelalterlicher Gottesdienste gibt uns eine andere Stiftungsurkunde, in der es heißt:
Der Pfarrer Hermann Contzen in Schweinsberg hatte ins Predigerkloster 100 Gulden zu einem Testament gegeben. Der Prior Johannes Andree, der Subprior Ludwig Bodirklois, der Lesemeister Heinricus Bodenbender und die übrigen Herren und Brüder bezeugen, dass sie diese Summe am Schlafhause und Rebentur (Speisesaal) verbaut hätten. Dafür sollen sie jeden Sonnabend in ihrer Kirche morgens nach dem ersten Geläute auf und vor dem Altar unserer lieben Frau, der himmlischen Königin, eine Singmesse halten und singen die Sequenz „ave preclara“ (= Sei gegrüßt du Holdseelige), und 2 Knaben sollen mit brennenden Kerzen in ihren Händen vor den Altar treten, als man unsern Herrgott in der Messe hebt, (gemeint ist das Erheben der geweihten Hostie nach der Wandlung; F.D.) und singen „miserere miserere populi tui, quod redemisti cum sanguine tuo etc.“ (= Erbarme, erbarme dich deines Volkes, das du durch dein Blut erkauft hast) als das man pflegt zu singen, wenn man die Kreuze trägt. Auch soll der Priester, welcher die vorgenannte Messe singt, allezeit die Collecte uffsagen „fidelium deus omnium conditor etc.“ (= Herr, du Schöpfer aller Gläubigen). 1452, tertia feria ante festum Bartholomei apostoli (= am Dienstag vor dem Bartholomäustag, den man am 24. August feierte; F.D.).
Durch die ausgedehnte seelsorgerliche Tätigkeit der Dominikanermönche fühlte sich der vom Deutschen Orden eingesetzte Stadtpfarrer an der Marienpfarrkirche öfter in seinen Rechten und Pflichten eingeschränkt. So beschwerte sich 1453 der Stadtpfarrer Johann Leybenit vor Notaren und Zeugen, dass der Lesemeister des Dominikanerklosters Bodenbender in seine Seelsorge eingegriffen habe. Ein Jahr später versuchte der Scholastikus Rosenberg aus Mainz im Hause des Bürgermeisters in Gegenwart zweier Schöffen, eines Notars, des Stadtpfarrers und zweier Vertreter des Klosters den Streit zu schlichten. Wie dieses Gespräch endete, wissen wir nicht, wohl aber, was auf Kosten der Stadt verzehrt wurde: Nämlich 4 Maß Elsässer Wein und 5 Maß Bier. Im Jahre 1504 musste noch einmal ein solcher Streit geschlichtet werden ((Vgl. auch B. zur Nieden: Zur Geschichte des Dominikanerklosters in Marburg; in: Kirche auf dem Felsen, Marburg 2000.)).
Dominikaner überlassen ihr Kloster der Universität 1527 (Peter Janssen der Ältere, Aula der Alten Universität Marburg, 1903)
Als im Jahre 1527 die Reformation in Marburg eingeführt wurde, sahen die Dominikaner keine Seelsorgemöglichkeit in Marburg mehr. Landgraf Philipp schlug den Mönchen vor, das Kloster aufzugeben und in den weltlichen Stand zurückzukehren, oder sich abfinden zu lassen. Zur Ehre des Marburger Dominikanerkonventes muss man sagen, dass keiner der Mönche die Klostergemeinschaft verlassen hat. Geschlossen haben die Mönche die Stadt Marburg mit unbekanntem Ziel verlassen. Die kaum noch leserliche und stark zerstörte Verzichtsurkunde trägt die Unterschriften von: Johannes Ysemrot, Prior, Heinricus Calipisieus, Johannes Danielis, Johannes Pistoris, Philippus Henckemann, Eckhardus Gieß, Jakobus Solmacher, Ludevicus Sutoris, Conradus Pistoris, Ruel Heckmann, Wolfgang Biedencap, Johannes Frankenberg, und Petrus Nictatoris.
In die leerstehenden Klosterräume, die seitdem den Namen „Collegium Lani“ tragen, zog 1527 die neu gegründete Philipps-Universität ein. Das Haus des Priors, das parallel zum Lahntor stand, beherbergte von 1531 bis 1868 das Pädagogicum, das spätere Gymnasium Philippinum. Auch die Klosterkirche wurde zwar zunächst der Universität zugewiesen, diese nutzte sie jedoch nur für Begräbnisfeiern der Professoren. Das Inventar wurde zugunsten eines „gemeinen Gotteskastens“, welcher der Marburger Armenpflege diente, verkauft (auch die mittelalterliche Orgel wird in dieser Zeit verloren gegangen sein), die geistlichen Bruderschaften wurden aufgelöst.
Nordseite mit Kornmarkt links (Foto: Thomas Scheidt; Bildarchiv Foto Marburg)
Als im Januar 1552 ein Hochwasser der Lahn die beiden mittleren Brückenbogen der Weidenhäuser Brücke einriss, wobei 24 Menschen den Tod fanden, beabsichtigte die Stadt, die nutzlose Dominikanerkirche abzubrechen und aus ihren Steinen die Brückenbogen zu erneuern. Dazu kam es zum Glück nicht. Aber nahezu ein Jahrhundert, von 1579 bis zu ihrer Wiederherstellung, diente die riesige Kirche als Kornspeicher, weshalb der ehemalige Begräbnisplatz der Dominikaner noch heute den Namen „Kornmarkt“ trägt. Fenster an der Nordseite und vermauerte Fenster über dem Westportal, ehemalige Lüftungsluken für die vier eingezogenen Speicherböden, erinnern noch an diese Zeit.
1658 durch Landgraf Wilhelm VI für den evangelischen Gottesdienst wieder hergestellt
Erst 1653, als nach dem Dreißigjährigen Krieg auf Betreiben des 1. Kurators der Universität von Dauber, der aus einer Weidenhäuser Familie stammte, die Philipps-Universität wieder ihre Pforten öffnete, ließ Landgraf Wilhelm VI. die Kirche wieder herrichten. Aus jener Zeit stammen die barocke Kanzel, der Altartisch, dessen Steinplatte auf vier geschnitzten Eichenfüßen ruht, und das Holzgewände des heutigen Taufbrunnens, das ursprünglich als Lesepult diente. Auch eine neue Orgel ist damals wahrscheinlich errichtet worden, denn die Kirchengemeinde der Universitätskirche hat Jahrhunderte lang stets einen Kantor und einen Organisten bezahlt.
Die Kirche wurde der seit 1607 bestehenden kleinen niederhessisch-reformierten Gemeinde übergeben. Im Juli oder August 1658 konnte der erste Gottesdienst in ihr gehalten werden.
Da sich die Gemeinde ursprünglich vor allem aus Angehörigen des Hofes und der Garnison zusammensetzte, wurde die Universitätskirche bis zur Auflösung der Marburger Garnison mit dem zweiten Weltkrieg auch als Garnisonskirche gebraucht.
Der Gemeinde schlossen sich aber auch einige Marburger Bürgerfamilien an, wovon besonders die bemerkenswerte Geschichte der Familie Unkel zeugt (vgl. Ritter, Dreihundert Jahre), die seit den sechziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts bis heute zur Gemeinde gehört und darüber hinaus zahlreiche Kirchenälteste in ihren Reihen zählt (nachgewiesen seit 1790; der bisher letzte, der Optiker Friedrich Unkel, schied erst vor wenigen Jahren aus diesem Amt). Lange Zeit lautete der vollständige Name der Universitätskirche denn auch „Universitäts‑, Garnisons- und evangelisch-reformierte Stadtkirche“.
Als gottesdienstlicher Versammlungsraum der niederhessisch-reformierten Gemeinde wurde die Universitätskirche zu einer Diaspora-Kirche innerhalb des oberhessischen Luthertums. Philipp der Großmütige hatte die Reformation in seinem Land als „mildes Luthertum“ eingeführt und sich mit dem Marburger Religionsgespräch von 1529 um eine Aussöhnung zwischen Lutheranern und Reformierten bemüht. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert führte dagegen Landgraf Moritz der Gelehrte mit seinen „Verbesserungspunkten“ unter Beibehaltung des lutherischen Bekenntnisses (der Augsburgischen Konfession und der Apologie Melanchthons) eine „verdeckte“ zweite Reformation durch, die einerseits die Bündnisfähigkeit mit den reformierten Staaten im Westen sichern sollte, ihm andererseits aber auch als notwendige Bedingung für kulturellen Fortschritt, ja als dieser Fortschritt selbst galt. Die Verbesserungspunkte sahen u.a. die Verwendung von normalem Brot beim Abendmahl (da Christi Gegenwart als nur geistlich und nicht real gelehrt wurde) und ein klares Bilderverbot vor. Zerstörte Reliefs und leere Nischen an der Westseite der Universitätskirche erinnern an die Bildervernichtung im Zuge der „Reform“. Die entschiedene Verweigerung der „mauritianischen Verbesserung“ in Oberhessen hatte jedoch zur Folge, dass neben der Universität nur die Hof- und Garnisonsgemeinde in Marburg „reformiert“ werden konnte, eben jene Gemeinde, die später ihren Gottesdienstraum in der Universitätskirche fand ((Zur mauritianischen Reform vgl. auch G. Menk: Landgraf Moritz und die Rolle Marburgs bei der Einführung der „Verbesserungspunkte“, in: Kirche zwischen Schloß und Markt. Die lutherische Pfarrkirche St. Marien zu Marburg, hrsg. von H.J. Kunst und E. Glockzin. Marburg 1997, S. 48–57 (und die dort angegebene Literatur). Vgl. auch D.H. Eibach: Offen für die erneuernde Kraft des Evangeliums; in: Kirche auf dem Felsen.)).
Da durch Landgraf Moritz die Universität ihren ursprünglich lutherischen Charakter verloren hatte, konnte die ehemalige Klosterkirche auch zur Kirche der Universität werden. Bis heute erfüllt sie die Doppelfunktion, Kirche ihrer Ortsgemeinde und Kirche der Universitätsgemeinde zu sein ((Vgl. Auch J. Renner: Die Gottesdienste in der Universitätskirche, in : Kirche auf dem Felsen.)).
Für die aus verschiedenen Körperschaften und Ständen zusammengesetzte Gemeinde wurde vom Fürsten eine feste Sitzordnung bestimmt. So erhielten der Landgraf und die Angehörigen des Hofs, die Ratsherren, Professoren, das Hofgericht, das peinliche Gericht, die Regierung und die Beamtenschaft, Offiziere, Bürger, Schüler des Pädagogicums, Studenten und die Insassen der Deutsch-Ordens-Kommende jeweils eigene Plätze. 1706 wurde eine Vorschrift erlassen, in welcher Reihenfolge die einzelnen Kirchenstände das Abendmahl empfangen sollten: zuerst die Ratsherren unten im Chor, dann die Professoren unten und oben, dann der Hof und die Regierung, dann die Bühne der Gerichtsbehörden, schließlich die Studenten, Beamten, hohen Offiziere usw.
Wie der Innenraum zur Zeit des Barock genau ausgesehen hat, ist unbekannt, aber die Anordnung des Gestühls für den reformierten Predigtgottesdienst zeigen Fotografien aus der Zeit vor dem Umbau von 1904: Der Altar stand unter der Kanzel, Bänke und geschlossene Balkone umrahmen sie im Chor, Kirchenschiff und an der Nordseite der Kirche.
Ihre Verbundenheit mit der Gemeinde drückten besonders die adligen Gemeindeglieder durch Schenkungen von Altargeräten aus. Eine noch heute im Gebrauch befindliche Abendmahlskanne von 1663 stiftete die Tochter eines Regierungsrats, Anna Adelheid Vultejus, dem Andenken ihres verstorbenen Ehemanns, der ebenfalls Regierungsrat gewesen war. Ihr Familienwappen, ein Hundekopf mit Halsband und Ring, ist in die Kanne eingraviert.
Die Gemeinde entwickelte sehr bald auch karitative und pädagogische Aktivitäten. Von 1690 bis 1824 unterhielt sie ein Waisenhaus und von 1653–1824 eine Schule, die seit 1671 in der ehemaligen Kilianskirche untergebracht war. 1824 wurden Schule und Waisenhaus mit den jeweiligen lutherischen Einrichtungen vereint.
Bis ins späte 19. Jahrhundert ist die Geschichte der reformierten Gemeinde stark durch den konfessionellen Gegensatz zum vorherrschenden Luthertum geprägt. 1896 bemerkte der damalige Superintendent und langjährige Pfarrer der Universitätskirche, W. Wolff, dass die Geschichte der reformierten Gemeinde ohne den Konfessionsstreit nicht zu verstehen sei, meinte aber: „gerade dadurch, dass in der Entstehung und Entwicklung dieser Gemeinde solche allgemeineren Gegensätze sich abspiegeln, hat die Geschichte derselben nicht bloß ein lokales Interesse für Marburg, sondern auch ein allgemeineres für die hessische Kirche“ (S. 4). Wolff erinnert in seiner Geschichte der reformierten Gemeinde unter anderem daran, dass es erst 1780 durch den Einfluss Jung-Stillings möglich wurde, „dass ein reformierter Mann mit seiner lutherischen Frau und ein lutherischer Mann mit seiner reformierten Frau abwechselnd in der einen und anderen Kirche zum heiligen Abendmahl gehen durfte“ (S. 7). Und Wolff selbst war Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts in einen kirchenrechtlichen Streit involviert, der aus den konfessionellen Spannungen herrührte: Es ging um das seit 1876 verwehrte Recht reformierter Paare, sich auch in der Elisabethkirche trauen zu lassen. Wolff verteidigte es in einer kirchenrechtlichen Studie ((W. Wolff: Das gute Recht der reformierten Gemeinde zu Marburg an den Mitgebrauch der Elisabeth-Kirche. Eine geschichtliche und kirchenrechtliche Studie, Marburg 1880. Zur Besonderheit der reformierten Gemeinde vgl. auch D.H. Eibach: Offen für die erneuernde Kraft des Evangeliums, in: Kirche auf dem Felsen.)).
1841 wurde eine umfassende Renovierung des Innenraumes der Universitätskirche in Angriff genommen, in deren Zuge 1846 eine neue Orgel des Eschweger Orgelbaumeisters Friedrich Krebaum (gest. 1845) zur Aufstellung kam, die allerdings schon 1894 durch einen Neubau mit neugotischem Prospekt von der Firma Förster in Lich ersetzt wurde.
Im Jahre I904 wurde diese Orgel im Zuge einer neuen, groß angelegten Innenrenovierung der Universitätskirche wesentlich erweitert und in den hohen Chor auf eine große, neuerbaute Sängerempore gesetzt. Bei dieser Renovierung wurde auch das seit Jahrhunderten vermauerte dreiteilige Westfenster der Kirche wieder freigelegt und restauriert.
Förster-Orgel 1894–1904 (Foto: Ludwig Bickell; Bildarchiv Foto Marburg)
Am äußeren Erscheinungsbild der Kirche hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht allzu viel geändert. Der Dachreiter stammt aus dem 18. Jahrhundert, in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde vor das Nordportal ein neugotischer Windfang gesetzt, der aber mit der Renovierung von 1927 wieder entfernt wurde.
Erneuert 1927
1926 entschloss sich der Preußische Staat, zur bevorstehenden Vierhundertjahrfeier der Philipps-Universität den Innenraum der Universitätskirche von seiner neugotischen Kruste zu befreien und völlig neu zu gestalten. Viele Renovierungspläne wurden aufgestellt und wieder verworfen. Schließlich setzte sich K.B. Ritter, der Anfang 1925 aus Berlin kommend die erste Pfarrstelle des damaligen Kirchenrats Chr. Eisenberg übernommen hatte, mit einer Denkschrift durch, die zum Programm der (seinerzeit sehr umstrittenen) Neugestaltung des Kirchenraums wurde. In dieser Denkschrift schrieb Ritter:
Jeder Stil ist Ausdruck der Gesamthaltung einer Epoche dem Metaphysischen gegenüber. Daher kann die Ausdruckssprache einer abgelaufenen Epoche stets nur dekorative Wirkungen erzielen, aber nie der gegenwärtigen Haltung entsprechen. Gerade die protestantische Frömmigkeit fordert strengste Wahrhaftigkeit und Gegenwärtigkeit. Der protestantische Kultus der Gegenwart kann und darf sich nicht in das Gewand einer vergangenen Epoche hüllen. (…)
Der protestantische Gottesdienst ist immer, mag er nun Predigtgottesdienst oder Sakramentalgottesdienst sein, ein Ausdruck dafür, dass die Gemeinde vor Gott steht. Das bedeutet die Überwindung des Individualismus im Zusammenschluss der Gemeinde der aus der Zerstreuung dieser Welt herausgerufenen und zusammengerufenen Schar. Dieser Zusammenschluss erfolgt durch die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel, durch Einfügung des Einzelnen in eine Gemeinschaft des Gehorsams. Es ist die demütige ecclesia crucis (= Kirche des Kreuzes), nicht die ecclesia triumphans (= die triumphierende Kirche), also die in ihrer eigenen Lebensbewegung immer wieder gebrochene und umgewandte Gemeinde, die unter dem Kreuze steht. (…)
[Der Kirchenraum] hat die Aufgabe, der leibhaftig versammelten Gemeinde dazu mit zu verhelfen, dass sie aus einer bloßen Versammlung zur Höhe gemeindehaften Daseins emporgehoben wird. (…) In den Kirchenraum gehört nur das, was Ausdruck der vor Gott stehenden Gemeinde zu werden vermag“ (K.B. Ritter, Denkschrift).
Innenraum seit 1927, goldener Lettner 1928 (Foto: Horst Fenchel; Bildarchiv Foto: Marburg)
Die Umsetzung der in Ritters Denkschrift vorgeschlagenen architektonischen Ideen ist dem preußischen Ministerialrat Fritz Keibel zu verdanken, der in einem ausführlichen Renovierungsbericht Auskunft über architektonische und technische Details des Umbaus gegeben hat (F. Keibel, Die Wiederherstellung), in dem er u.a. festhielt:
Bei der Erneuerung des Kircheninnern ist versucht worden, die größten Mängel in der Ausgestaltung des Innenraumes zu beseitigen. Daneben galten die Bemühungen einer günstigeren Anordnung des Gestühls und der Emporen bei gleichzeitiger Beibehaltung der Platzzahl und unter Konzentrierung des Blicks der Gemeinde auf Altar und Kreuz. (…) Um das Chor besser zur Geltung kommen zu lassen, wurde die mittelalterliche (flache; H.K.) Notdecke über dem Schiffe ausgeschnitten und in den alten Dachstuhl eine Tonne eingefügt, die durch einen neuen Triumphbogen gegen das Chor hin abgeschlossen ist. (…) Es wäre (…) zu erwägen gewesen, ob man die Tonne nicht besser (…) über der ganzen Schiffbreite entwickelt hätte. In diesem Falle hätte natürlich der Triumphbogen nicht konzentrisch zur Tonne des Schiffes ausgebildet werden können, dafür wären aber die verschieden breiten Restflächen der flachen Decke entlang der Nord- und Südwand vermieden worden. Verfasser hat diese Härte zu mildern versucht durch räumliche Unterteilung der Restflächen und durch einen starken plastischen Fries. (…) Zur Vermeidung von Härten zwischen Triumphbogen und Deckenfläche wurde als Abschluss der Decke gegen den Triumphbogen ein geschnitzter Maßwerkschleier vor den Triumphbogen gesetzt.
Bei der farbigen Behandlung der Tonne und der anschließenden Teile wurde eine teppichartige Wirkung zu erreichen versucht, wie sie sich in manchen Kirchen Oberitaliens aus romanischer Zeit, z.B. in San Zeno in Verona, vorfindet, in unserem Falle mit weinrotem Grunde und Höhung durch Weiß, Gelb und Grau. (…)
Bei der Gestaltung der Emporen des Seitenschiffes wurde versucht, die Pfeiler, die bei der früheren Gestaltung der Tribüne vollkommen überschnitten wurden, frei in ihrer ganzen Höhe durchlaufen zu lassen. Es ergaben sich so die weit auskragenden Balkone, da die Gemeinde gerade auf diese sehr guten Plätze nicht verzichten wollte. (…) Bei der Gestaltung der Brüstungen wurde die Formensprache und Farbgebung der Decke wieder aufgenommen. (…)
Die kleinen Bronzekronen im Innern, die in zwei Reihen von der gewölbten Decke an roten Seidenschnüren herabhängen, sind möglichst tief angebracht, damit sie ein gutes Leselicht ergeben, ohne den oberen Teil des Schiffes zu sehr zu erhellen (…) Die Logen unter den drei Tribünen haben unmittelbare Beleuchtung in den Kassetten der Decken erhalten (…)
Durch die neu eingefügte Tonne wurde der Blick in den Chorraum frei. Es galt daher, den Altarraum würdig nach Osten abzuschließen, ein erhöhtes Podium für einen größeren Sänger- und Orchesterchor zu schaffen, die Orgel an die Ostwand des Chores heranzurücken und den Prospekt so auszubilden, dass er sich dem hoch aufragenden Raume einfügte (…) So entstand die Abschlusswand hinter dem Altarraum, die, möglichst niedrig gehalten, nach oben durch eine geschnitzte, durchbrochene und vergoldete lettnerartige Schranke bekrönt wird, mit Darstellungen aus dem Leben und Leiden Christi. An Stelle der Kreuzigung, die in der Reihe der Bilder fehlt, ist auf besonderen Wunsch des Pfarrers Ritter das große Kreuz hinter dem Tische des Herrn errichtet.
So erfüllt die Gestaltung das Programm der architekturtheologischen Denkschrift Ritters: Das im Zentrum des Blicks zwischen Schiff und Chor aufragende Kreuz macht sinnfällig, wie sich die Gemeinde in der gemeinsamen Hinwendung zum Kreuz zusammenschließt. Die seitliche Anordnung der Kanzel stellt dem Prediger die Aufgabe, auf das Kreuz hinzuweisen und die Blicke von sich fort zu wenden. Im Schiff sind alle Formen vermieden, die von der Blickwendung zum Chor ablenken könnten. Aus dem gleichen Grund weist der Altarraum die stärkste Farbgebung auf. Der Chor ist die hellste Lichtquelle, während das Schiff in gedämpftem, fast dunklem Licht liegt: die Gemeinde schaut aus dem Dunkel zum Licht. Endpunkt des Blickfangs ist oben, dort wo das Gewölbe im Sechseck auseinander geht, der Christuskopf. Er stammt noch aus der Zeit der Errichtung der Kirche, weshalb lange angenommen wurde, es müsse sich um Johannes den Täufer handeln. Heute ist man aber eher davon überzeugt, dass es Christus ist, der Eckstein, auf den die Kirche gegründet ist, in dem allein sie gehalten wird. Der siebenarmige Leuchter und das Christus-Monogramm über der Nord- und der Südtür zu den Sakristeiräumen verweisen auf die biblischen Heilswege des Judentums und des Christentums, auf den Alten und den Neuen Bund.
Lichtverstärkend im Chor wirken die Pfeifen des expressionistischen Orgelprospektes, das die Förstersche Orgel ersetzte. Seine Form soll die Flügel einer Harfe darstellen, der Harfe, die den Psalter Davids begleitete. Bei der Erneuerung der Orgel durch die Firma Walker wurde das alte Orgelwerk zunächst eingearbeitet. Erst in den fünfziger Jahren wurde das Pfeifenmaterial der neugotischen Orgel durch neues ersetzt. Die alten Windladen verschwanden erst Mitte der sechziger Jahre, nachdem sie in dem kalten Winter 1963/1964 gerissen und völlig unbrauchbar geworden waren.
In Zusammenhang mit der Renovierung wurde die Kirche mit einer Reihe von geistlichen Kunstwerken im modernen Stil der zwanziger Jahre ausgestattet. Der erwähnte Lettner stammt von dem Bildhauer Wilhelm Lemcke. Er wurde 1928 eingezogen. Ebenfalls von Lemcke stammen die Figur des Pelikans ((Der Pelikan polstert seine Nester mit eigenen Brustfedern aus. In der Antike hatte man deshalb die Vorstellung, er würde sich in Notzeiten die Brust aufreißen und mit seinem Blut seine Jungen füttern. Deshalb galt der Pelikan als Sinnbild des Opfers Christi zur Erlösung der Menschheit und als Sinnbild des Heiligen Abendmahls (vgl. Wörterbuch der Symbolik, hrsg. von M. Lurker, Stuttgart 1991 (5. Auflage), S. 560.)) auf der Brüstung der Südempore, die vier Delfine auf der Messingschale des Taufbeckens (sie speien während der Taufhandlung Wasser), die Evangelistensymbole an den Säulen der Nordseite sowie die Sanktgeorgsfigur über dem Westportal.
(Foto: Thomas Scheidt; Bildarchiv Foto Marburg)
Die bronzenen Altarleuchter, deren Sockel ein stark expressionistisches Engel-Relief schmückt, schuf Otto Coester. Von ihm stammt auch das erste, ebenfalls stark expressionistische hölzerne Altarkreuz, das Christus als vergreistes Kleinkind zeigt. Coester stellte damit eine Verbindung zwischen dem Geschehen am Kreuz und der antiken Sage vom Gott Chronos her: Als Romulus bei der Gründung der Stadt Rom den Umkreis mit einem Pflug abmaß, legte er ein kleines Kind aus der Erde frei, das anfing zu sprechen und in ungeheurer Geschwindigkeit die bisherige und kommende Weltgeschichte erzählte, wobei es vergreiste und schließlich starb. Dieses Kind war der Gott Chronos: die Zeit. Dass Zeit und Ewigkeit in den Händen Christi liegt, sollte durch dieses Altarkreuz zum Ausdruck gebracht werden. Damit war die Gemeinde jedoch überfordert. Sie lehnte das Altarkreuz ab, das schließlich seinen Ort in der Sakristei fand und durch das helle Altarkreuz des Goldschmieds Professor Rickert ersetzt wurde. Dieses nimmt das Leitmotiv des Lettners auf und zeigt Christus inmitten von Weinranken. Vier Evangelistensymbole korrespondieren den Symbolen an den Säulen der Nordseite des Kirchenschiffs.
(Bildarchiv Foto Marburg)
Ein bedeutendes Werk aus den zwanziger Jahren befindet sich in der so genannten Kreuzkapelle, die hoch über dem Kreuzgang der Alten Universität zwischen der Universitätsaula und dem Chor der Kirche gelegen ist: der Wandteppich von Elisabeth Coester hinter dem Altar. Er zeigt den erhöhten Herrn, der sein Leben im Sakrament austeilt und zu dem die Gebete der Gemeinde durch Engel empor getragen werden.
Der Raum der Kapelle war durch den Neubau der Universität entstanden, als nach dem Abriss der Klostermauern ein kleiner Zwischenraum, die alte Winterkirche, übrig geblieben war. Über diesem ergab sich ein neuer Raum, der zunächst als Sakristei für die reformierte Kirchengemeinde diente. Als die Sakristei 1927 in den hohen Chor verlegt wurde, richtete man hier einen neuen Andachtsraum ein: die Kreuzkapelle.
(Foto: Jörg Rustmeier)
In der Kapelle, erinnert eine Bronzetafel an ein wichtiges Datum in der Geschichte der Universitätskirche nach ihrer Neugestaltung: Am 1. Oktober 1931, zeitlich nahe am Michaelstag (29. September), stifteten hier 22 Männer aus der liturgischen Berneuchner Bewegung, darunter K.B. Ritter, E. Schwebel und W. Stählin, die Evangelische Michaelsbruderschaft. Die Frage, wie das Ursprüngliche des Christentums der kritischen Jugend ihrer Zeit wieder erlebbar gemacht werden konnte, hatte die Stifter der Bruderschaft das Heilige Abendmahl als Zentrum des evangelischen Gottesdienstes wieder entdecken lassen. Und jene, die Pfarrer Ritter in die Kreuzkapelle begleiteten, hatten sich bei den Versuchen einer liturgischen Neuorientierung als eine Gemeinschaft erlebt, die in Gebet, Gottesdienstfeier und gegenseitiger Seelsorge jenes Christentum einübt, das man nachher in Vereinzelung bewähren muss. Die innerhalb der Bruderschaft gefeierte Evangelische Messe nimmt, maßgeblich durch K.B. Ritter geprägt, katholische sowie alt- und ostkirchliche Vorlagen auf, erfährt aber bis heute den Erfordernissen der Gegenwart angepasste Neuentwicklungen. An der Universitätskirche wird ihre Tradition auch heute fortgeführt, so dass sich ihr gottesdienstliches Leben durch eine besondere Vielfalt auszeichnet: Landeskirchlicher Gottesdienst, Evangelische Messe, Universitätsgottesdienst, ökumenische und musikalische Abendmessen und andere Gottesdienstformen werden in ihr gefeiert ((Vgl. J. Renner: Die Gottesdienste in der Universitätskirche, in: Kirche auf dem Felsen.)).
1933 begann auch für die Universitätskirche eine schwere Zeit. Während K.B. Ritter als Vorsitzender des Bundesrates der Bekennenden Kirche Kurhessens mehrmals verhaftet und schließlich nur durch den Mut des damaligen Direktors der Marburger Universitätsnervenklinik, Prof. Kretschmer, der ihn als verhandlungs- und vernehmungsunfähig in seiner Klinik festhielt, vor dem KZ gerettet werden konnte, war sein Kollege, Pfarrer Veerhoff, Anhänger der Deutschen Christen.
Vertreten wurde Pfarrer Ritter während der Militärzeit und des „Krankenhaus-Exils“ unter anderem von einer Frau, Claudia Bader. Als Frau konnte sie zu dieser Zeit noch nicht Pfarrerin sein, sondern durfte sich nur „Vikarin“ nennen. Anfang der fünfziger Jahre wurde sie dann aber – gegen Vorbehalte Ritters, jedoch mit deutlicher Unterstützung Friedrich Heilers (der anderen großen Gestalt der liturgischen Bewegung in Marburg) – als erste Pfarrerin der Kurhessischen Landeskirche ordiniert ((Vgl. H. Hartog: Evangelische Katholizität. Weg und Vision Friedrich Heilers, Mainz 1995, S. 200f.)).
Das Jahr 1933 brachte auch Veränderungen für den Universitätsgottesdienst mit sich. 1932 war Friedrich Niebergall, der das Amt lange Zeit geprägt hatte, verstorben, und Ende 1933 wurde der Universitätsprediger Karl Bornhäuser emeritiert. 1934 wurde dann ein Angehöriger der Deutschen Christen als neuer Praktischer Theologe berufen. Eine Ernennung zum Universitätsprediger konnte aber vermieden werden (zu einer Neubesetzung des Amtes kam es erst 1957 mit Alfred Niebergall). Bereits 1933 hatten Rudolf Bultmann und Hans Freiherr von Soden (er leitete die Bekennende Kirche in Kurhessen-Waldeck) das bis heute übliche Verfahren eingeführt, nach dem grundsätzlich alle Mitglieder der Theologischen Fakultät Universitätsgottesdienste halten. Auch Bultmann hielt, obwohl er selbst ein Gegner der Verbindung von Universitäts- und Gemeindegottesdienst war und den akademischen Gottesdienst in den Hörsaal verlegt wissen wollte, in dieser Zeit zahlreiche Gottesdienste in der Universitätskirche, von denen die später veröffentlichten Marburger Predigten zeugen. Folgendes Zitat aus der Predigt zum 1. Advent 1939 kennzeichnet wohl die ganze Zeit unter der nationalsozialistischen Herrschaft:
Jesus stellt die Entscheidungsfrage. Das Licht, das er schenkt, ist überweltliches Licht; die Freude, die er spendet, ist überweltliche Freude. Dieses Licht, diese Freude wirklich wollen, ihm nachfolgen also, das heißt: existieren, als ob man gar nicht zu dieser Welt gehöre! Wollen wir das wirklich? (…) Wollen wir wirklich das himmlische Licht für unser irdisches Dunkel? Wollen wir eingestehen, dass unsere Welt, dass wir selbst in der Finsternis sind? Lasst uns den Ruf zur Entscheidung recht verstehen, lasst uns dem Ruf zur Nachfolge gehorchen! Wer weiß, wie lange er das Wort noch hören darf? ((Rudolf Bultmann, Marburger Predigten, Tübingen 1968 (2. Auflage), S.102 und 106. Von Sodens akademische Predigten („Wahrheit in Christus. Zwölf Predigten“) wurden übrigens 1947 von H. von Campenhausen aus dem Nachlass herausgegeben.))
An den Krieg erinnert das Christophorus-Fresko an der Nordseite des Altarraums, das den Heiligen in abgerissener feldgrauer Uniform zeigt, wie er das Christuskind durch einen Sumpf trägt. Gemalt wurde das Fresko 1947 von Professor Frank aus Marburg nach Entwürfen seines in der Kriegsgefangenschaft umgekommenen Freundes Franzis Bantzer.
Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wurde ein pergamentenes Buch mit den Namen aller Marburger Gefallenen angefertigt. Nach dem Diebstahl des Buches in den neunziger Jahren liegt heute die Kopie einer Abschrift unter dem von Arnold Rickert (von ihm stammt auch das Adlerpult) gestalteten Gedenkkreuz.
1954 wurde eigens für die Universitätskirche ein zweiflügliger Weihnachtsaltar von Helmuth Uhrig gestaltet, der zwischen Kanzel und Südempore seinen Platz hat. Der Altar zeigt zwischen Maria und Josef das Kind in der Krippe. Die Hirten und Könige stehen unter dem Kind und schauen zu ihm empor. Die fünf Figurengruppen aus massiven Holzblöcken sind so angeordnet, dass der zwischen ihnen freigelassene Raum den Umriss des Gekreuzigten erkennen lässt. In der Advents- und in der Fastenzeit sind die Flügel des Altars geschlossen. Zwischen Weihnachten und dem Ende der Epiphaniaszeit steht er auf dem Altartisch.
Die bisher letzte bauliche Veränderung in der Universitätskirche geschah 1995 mit der Renovierung und Neugestaltung der Kreuzkapelle zu einem hellen, lichten Raum. Die Renovierung wurde notwendig, damit der Raum seinem heute wichtigsten Zweck dienen kann: Kirche des Kindergottesdienstes („Kinderkirche“) zu sein.
2000 und später
1999 wurden durch das Bildarchiv Foto Marburg neue Aufnahmen vom Innenraum der Universitätskirche angefertigt, die auch teilweise Eingang in die Festschrift „Kirche auf dem Felsen“ anlässlich der 700-Jahrfeier der Universitätskirche gefunden haben. Ein von der obersten Westempore aufgenommenes Bild der Orgel zeigt über dem linken Querbalken des Hochkreuzes die große Aufschrift auf ihrem Prospekt: ein Wort, von dem zu hoffen ist, dass es sich einst als Leitwort der vergangenen und noch ausstehenden Geschichte des Gebäudes, seiner Menschen und Gottesdienste erwiesen haben wird: SOLI DEO GLORIA! GOTT ALLEIN DIE EHRE!
Holger Kuße / Friedrich Dickmann ((Der Beitrag ist von Holger Kuße aus verschiedenen Artikeln und Kirchenbeschreibungen zum Teil zusammengestellt, zum Teil auf deren Grundlage neu geschrieben worden (vgl. oben Quellen). Der erste Teil (zur Geschichte des Dominikanerklosters) stimmt weitgehend mit Friedrich Dickmann, Ein Eckpfeiler der Stadt, überein. Der ganze Text wurde von Pfarrer Dickmann kritisch durchgesehen. Zuerst erschienen in: Kirche auf dem Felsen, Marburg 2000.))
Quellen
- F. Dickmann: Die evangelische Universitätskirche zu Marburg (Kirchenbeschreibung)
- —, Ein Eckpfeiler der Stadt schon im Mittelalter: das Dominikanerkloster, in: Studier mal Marburg. April/Mai 1981, S. 93–94
- —, Es begann in Marburgs Kreuzkapelle. 50 Jahre Evangelische Michaelsbruderschaft, in: Oberhessische Presse. 30.09.1981
- —, Die Orgeln der Universitätskirche zu Marburg vor 1927, in: Kirche in Marburg, September 1986, S. 3–4
- —, Vom Dominikanerkloster zum Kollegium Lani. Ein Doppeljubiläum im Sommer 1991, in: Kirche in Marburg, Oktober 1991, S. 8–9
- F. Dickmann / H. Schmitt: Kirche und Schule im nationalsozialistischen Marburg, Marburg 1985
- K. Hammann: Rudolf Bultmann und der Universitätsgottesdienst in Marburg, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 1993, Heft 1, S. 87–116
- F. Keibel: Die Wiederherstellung der Universitätskirche zu Marburg an der Lahn anlässlich der Vierhundertjahrfeier der Universität, in: Die Denkmalpflege, Zeitschrift für Denkmalpflege und Heimatschutz, Jg. 1930, S. 17–30
- H.A. Lippert: Die evangelische Universitätskirche zu Marburg, 1998 (Kirchenbeschreibung)
- K.B. Ritter: Die evangelische Universitätskirche zu Marburg, 1958 (Kirchenbeschreibung)
- —, Dreihundert Jahre Universitätskirche im Spiegel der Geschichte einer alten Marburger Familie, in: Gemeindebote der evangelischen Kirchengemeinden Marburg/L., Jg. 1958, Nr. 12, S. 8–9
- —, Aus einem Pfarrerleben, in: Gemeindebote der evangelischen Kirchengemeinden Marburg/L., Jg. 1960, Nr. 24, S. 4–9
- —, Denkschrift zum Umbau der reformierten Stadt- und Universitätskirche in Marburg, in: Kirche in Marburg, Januar 1977, S. 4–5 (Original 1926)
- W. Wolff: Die evangelisch-reformierte Gemeinde in Marburg. Ein Rückblick auf ihre Entstehung und Entwicklung seit 250 Jahren, Kassel 1896