Zur Geschichte der Universitätskirche von Margret Lemberg
Aus dem Marburger Stadtbild ist sie nicht wegzudenken, doch nur wenige kennen sie wirklich. Auch die im Mai 2015 verstorbene Historikerin Margret Lemberg machte bei ihren Forschungen zur Universitätskirche im Staatsarchiv Marburg überraschende Entdeckungen. Ihr letztes, mit Bildern reich ausgestattete Buch zeichnet die wechselvolle Bau- und Gemeindegeschichte detailliert nach.
Um 1300 begannen die Dominikaner mit dem Bau des hohen Chores der Kirche über der Lahn. Die beiden Klöster der Dominikaner und der Barfüßer (Franziskaner) bildeten wichtige Eckpunkte der Stadtbefestigung. Kirchengebäude durften nämlich nicht angegriffen werden. Interessanterweise — so schildert es Margret Lemberg — wurden schon am Ende des Mittelalters die Theologen (der späteren Universitätskirche) von den zum Deutschen Orden gehörenden Geistlichen der Pfarr- und der Elisabethkirche als Konkurrenz angesehen. Denn sie gingen bei ihrer Gemeindearbeit durchaus neue Wege und hatten Erfolg bei der Marburger Bevölkerung.
Eine Klosterkirche wird Übungsraum und Kornspeicher
Mit der Auflösung der Klöster im Zuge der Reformation standen die verschiedenen Konventsgebäude in der Stadt nun der 1527 gegründeten Landesuniversität zur Verfügung: das Dominikanerkloster den Juristen und dem Gymnasium Philippinum, das Anwesen der Kugelherrn den (evangelischen) Universitätstheologen und das Barfüßerkloster den Medizinern und Philosophen. Als erste Universitätskirche fungierte bis 1653 die (Lutherische) Pfarrkirche. Die vormalige Dominikanerkirche wurde dagegen zunächst für Übungen und als Lagerraum benutzt. 1578/9 wurden Zwischendecken und Fenster eingebaut: Das Kirchenschiff diente in den folgenden Jahrzehnten als landgräflicher Kornspeicher.
Wiederherstellung als reformierte Pfarrkirche 1658
Nach dem Dreißigjährigen Krieg musste der calvinistische (reformierte) Landesherr von Kassel den Bestand der lutherischen Konfession in Oberhessen anerkennen. Landgraf Wilhelm VI. war es aber ein Herzensanliegen, seiner eigenen Glaubensrichtung in Marburg eine Heimstatt zu verschaffen. Dazu ließ er 1658 die alte Dominikanerkirche wiederherstellen: nunmehr zur Pfarrkirche für die reformierten Beamten, Offiziere, Professoren und Studenten. Dass ein aufgegebenes Kirchengebäude für seinen ursprünglichen Zweck restauriert wurde, hebt Lemberg als ganz außergewöhnlich hervor. Bis ins 20. Jahrhundert stellte die reformierte Stadt- und Universitätskirche das konfessionelle Gegenstück zur Lutherischen Pfarrkirche dar, der die große Mehrheit der angestammten Marburger Bevölkerung angehörte. Beide Pfarrkirchen konkurrierten eifersüchtig miteinander — was sich an vielen Streitigkeiten, etwa bei der Regelung „gemischter“ Ehen zeigte. Die Elisabethkirche als Besitz des Deutschen Ordens war übrigens faktisch Ausland; und ein römisch-katholisches Kirchenwesen gab es im Landgrafentum Hessen-Kassel nicht.
Aufbau einer reformierten Pfarrkirchengemeinde
Während die Lutherische Pfarrkirche von ihrer Gemeinde selber unterhalten wurde, erfreute sich die Reformierte Stadt- und Universitätskirche der Gunst des Landesherrn: Er selbst ließ sie ausstatten, besoldete ihre Pfarrer und trug die laufenden Kosten. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erlebte die reformierte Gemeinde so einen Aufschwung, auch durch die Zuwendungen ihrer vergleichsweise wohlhabenden Mitglieder, die überwiegend den „höheren Ständen“ angehörten. Lemberg zeichnet all dies mit Liebe zum Detail und aus den Quellen belegt nach. Das Aufkommen der Religionskritik und der Rationalismus des 19. Jahrhunderts führten vor allem bei den Gebildeten zu einer Schwächung der traditionellen Frömmigkeit und des Gottesdienstbesuchs. Dies traf die Universitätskirche besonders. Als Ort von Säkularfeiern und Universitätsjubiläen behielt sie dennoch ihre landesweite Bedeutung.
Neugestaltung für die Feier der „Evangelischen Messe“
Ein geradezu atemberaubendes Kapitel für die Universitätskirche wurde nach dem Ersten Weltkrieg aufgeschlagen, als Pfarrer Karl Bernhard Ritter (1890–1968) vom Deutschen Dom in Berlin nach Marburg kam. Der vormalige Landtagsabgeordnete konnte seine direkten Beziehungen zum preußischen Kultusministerium nutzen, um die Renovierung der Kirche zum Universitätsjubiläum 1927 nach seinen ganz eigentümlichen Vorstellungen durchzuführen. Ritter war nominell reformiert, engagierte sich aber als Mitbegründer der sog. Liturgischen Bewegung. Dieser ging es um eine Neubelebung des gottesdienstlichen und spirituellen Lebens im Protestantismus. Unter Ritters energischer Leitung erfuhr die vorher bildlose Universitätskirche eine radikale Neugestaltung zu dem Raum, den wir heute kennen: mit einem goldfarbenen Lettner, der den Weg des Heilands von seiner Empfängnis bis Pfingsten darstellt, und einem Hochkreuz über dem nun zentralen Altar: Quelle des Lebens der Gemeinde sollte die Abendmahlsfeier in der Form der sog. Evangelischen Messe sein. Diese knüpft an die Messreform Luthers an und integriert Elemente der Ökumene.
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
Die Umgestaltung der Universitätskirche führte deshalb wohl nicht zum Streit innerhalb der gegenüber dem charismatischen Pfarrer Ritter grundsätzlich aufgeschlossenen Gemeinde, weil recht bald die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den Vordergrund trat. Die zwei Pfarrer der Universitätskirche gehörten den gegensätzlichen Gruppierungen jeweils an führender Stelle an: Karl Veerhoff war „Deutscher Christ“, Ritter ein Kopf der „Bekennenden Kirche“ in Hessen. Mehrmals wurde Ritter von den Nationalsozialisten bedroht und sogar in Haft genommen.
Von der Konkurrenz zur bejahten Vielfalt
Nach 1945 gelang es unter dem nun zum Dekan ernannten Pfarrer Ritter, die so lange konfessionell getrennten evangelischen Kirchengemeinden Marburgs zusammenzuführen. In der Universitätskirche musste sich freilich erst noch — das verlief über Jahrzehnte durchaus nicht konfliktfrei — das Gegeneinander mehrerer Strömungen zu einem Miteinander entwickeln. Mit Recht ersparte sich Lemberg die Beschreibung auch noch dieser ganz eigenen Gemeinde-Geschichte.
Und heute? Selbstverständlich finden weiter die Universitätsgottesdienste der renommierten theologischen Fakultät statt. Sie sind mittlerweile nicht mehr rein akademisch geprägt, sondern den Künsten und aktuellen politisch-gesellschaftlich-religiösen Themen gegenüber aufgeschlossen. Beibehalten wurden auch die Gottesdienste in der niederhessisch-reformierten neben der von Pfarrer Ritter etablierten liturgischen Tradition. Die Universitätskirche bietet so das abwechslungsreichste Gottesdienstangebot aller Marburger Kirchen, vielleicht sogar in ganz Hessen.
St. Jost, die Kreuzkapelle und die Orgeln
Lembergs Buch ist im besten Sinne umfassend: es stellt nicht nur die wenig bekannte Kreuzkapelle der Universitätskirche vor, auch die verschiedenen Orgelbau- und Renovierungsprojekte sowie die wichtige Rolle der Kirchenmusik werden beschrieben.
Sogar der vielgeliebten St.-Jost-Kapelle im Stadtteil Weidenhausen, die seit 1954 zur Universitätskirche gehört, widmet es ein eigenes Kapitel. Abschließend dokumentieren ansprechende Abbildungen, wie die markant aufragende vormalige Dominikanerkirche die Jahrhunderte hindurch als wesentlicher Bestandteil des Stadtbildes wahrgenommen wurde. Das Buch sei allen Liebhabern Marburgs und besonders der Universitätskirche mit ihren vielfältig-schönen Gottesdiensten empfohlen.
Wolfgang Huber (Pfarrer an der Universitätskirche)
Margret Lemberg, Die Universitätskirche zu Marburg
Von der Kirche der Dominikaner zur reformierten Stadt- und Universitätskirche (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 82), Marburg 2016
ISBN 978–3‑942225–31‑1 — 36 €