Fotos: Jörg Rustmeier
Gespräch zwischen Willi Zimmermann und Jörg Rustmeier
Lieber Willi, am Ostermontag wurde dir eine hohe Ehre zuteil. Der Dekan hat dir in einem festlichen Gottesdienst die Elisabethmedaille der Landeskirche überreicht. Diese Auszeichnung bekommen nur verdiente Mitarbeiter, die viele Jahre ehrenamtlichen Dienst in der Kirche geleistet haben.
Als in dem Gottesdienst am Ostermontag der Dekan die Urkunde vorzulesen begann, war ich wie vom Donner gerührt. Das mir? Gedankenblitze: Nur für den Prädikantendienst? Das reicht dafür? Andere Prädikanten haben ein Mehrfaches geleistet! Als ich später nachdachte: Warum nicht für über 25 Jahre Mitarbeit im PTI [Pädagogisch-Theologisches Institut Marburg] und wöchentliche Beratungsstunden? Und als mir dann noch viele andere Tätigkeiten in der Kirche einfielen, die ich wahrgenommen habe, und meine vielfältigen Aufgaben in der Michaelsbruderschaft hinzunahm, fühlte ich meine Verdienste noch immer überbewertet, war aber doch einigermaßen beruhigt: Hast es vielleicht ja doch verdient.
Du warst 32 Jahre Prädikant, also ehrenamtlicher Geistlicher in der Universitätskirchengemeinde. Am Ostermontag wurdest du – in demselben Gottesdienst, in dem ich als Prädikant eingeführt wurde – offiziell als Prädikant „verabschiedet“, auch wenn wir in der Gemeinde das gar nicht gerne hören. Denn wir wünschen uns noch viele schöne Gottesdienste mit dir. Erzähl mir doch einmal, wie du Prädikant wurdest und wie dein Dienst über die vielen Jahre aussah.
Da muss ich früher anfangen. 1953 kam ich über den Berneuchener Kleinkreis der Marburger Studentengemeinde, der von dem Michaelsbruder Walter Lotz geleitet wurde, in die Universitätskirchengemeinde. Ich wurde Ministrant in der Evangelischen Messe, und jeden Mittag um zwölf Uhr hielten wir nach dem „Stundengebet“ der Michaelsbruderschaft das Mittagsgebet in der Universitätskirche. In der Michaelsbruderschaft, der ich 1954 beitrat, war ich dann häufig mit Diensten am Altar in der Evangelischen Messe und als Vorbeter bei Stundengebeten beteiligt, auch als Konventsältester in Nordhessen. Zu dieser Zeit war ich noch nicht Prädikant der Landeskirche.
Nach meinem Studium und Referendariat war ich dann einige Jahre in Hessisch Lichtenau, kehrte aber 1969 zurück und wurde in der Gemeinde von Pfarrer Heinz Gerlach [später Dekan in Bad Arolsen] am Richtsberg Kirchenvorsteher und Kirchenältester. Ich beteiligte mich auch im Gottesdienst, auch in Vorbereitung und Durchführung von „Gottesdienst einmal anders“ zu sozialen und politischen Themen.
Nach meinem Umzug nach Michelbach kehrte ich – weil sich in der dortigen Kirchengemeinde keine Tätigkeit für mich fand – in die Universitätskirchengemeinde zurück, in der ich als Student zu Hause war. Dort nahm ich bei Pfarrer Friedrich Dickmann wieder Dienste in der Evangelischen Messe wahr. Als dort der Emeritus Walter Lotz und der Prädikant Paul Schwarz sich aus Altersgründen zurückzogen, herrschte bei den Evangelischen Messen, die damals noch an jedem Sonntag und jedem Donnerstag und in mehreren Festtagsmessen gefeiert wurden (über hundert im Jahr) sozusagen „liturgischer Notstand“. Diesem Notstand wurde dann durch die Einführung von Otto Raabe und mir als Prädikanten 1979 auf Antrag des Kirchenvorstandes abgeholfen. Seitdem verrichte ich meinen Dienst bei der Evangelischen Messe und in der Gemeinde, so oft ich gebraucht werde.
Als Prädikanten haben du und ich ähnliche Aufgaben wie Pfarrerinnen und Pfarrer. Wir halten Gottesdienste und leisten Seelsorge, wir taufen und teilen das Abendmahl aus. Anders als unsere hauptamtlichen Kollegen bekommen wir aber kein Gehalt für unsere Dienste. Wir brauchen also unsere „profanen“ Berufe zum Lebensunterhalt. Auch da haben wir beide etwas gemeinsam. Magst du davon erzählen? Mich als frisch gebackenen Prädikanten interessiert vor allem: Konntest du Familie, Beruf und Ehrenamt immer gut zusammenbringen?
Im Rückblick frage ich mich heute oft, wie ich das geschafft habe. Ich habe mich eigentlich nie als überbelastet empfunden. Vielleicht lag das daran, dass Tätigkeiten neben dem selbstverständlichen Arbeitsfeld im Beruf immer zu meinem Leben gehörten: neben (und mit!) der sechsköpfigen Familie, neben Haus und Garten, Tennis, Singen, Tanzen – eben all die kirchlichen Aufgaben und die Aufgaben in der Michaelsbruderschaft, das PTI, Arbeit mit Schülern als Verbindungslehrer, Fernstudienlehrgänge, viel Fortbildung. An meinem Schlüsselbund war vieles erkennbar: Haus, Schule, Studienseminar, PTI, Kirche, Tennisplatz! Das Prädikantenamt war eine Erweiterung der Tätigkeit in einem vertrauten und geliebten Umfeld, eine „geistliche Übung“, nicht Belastung. Kirche – das ist doch in erster Linie Ent-lastung, geistliche, seelische, ganzheitliche „Ernährung“. Das hast du doch sicher auch schon erfahren und wirst es in deinem Amt weiter erfahren – vor allem in der Gemeinschaft derer, die hier mit dir Dienst tun.
Eines allerdings hat mir besonders am Anfang, aber auch heute noch immer wieder Irritationen bereitet. Im Lehrerberuf ist Monolog verpönt, und Kommunikation ist höchstes Ziel, gerade für einen Fachleiter am Studienseminar. Das ist – zumindest methodisch gesehen – im Gottesdienst ganz anders: Die Rückmeldung fehlt weitgehend. Das merkt man leider vielen Pfarrern auch an. In der Feier der Messe ist für mich die „Kommunion“, der Kreis um den Altar, wo man sich gegenseitig auch wahrnehmen sollte, das Ziel und der Höhepunkt der Feier.
Willi, du bist ja nicht nur Prädikant sondern auch Michaelsbruder. Davon hast du schon erzählt. Was ist dir als Michaelsbruder besonders wichtig?
Ich komme aus einem freikirchlich geprägten Elternhaus. Was Glaube und Frömmigkeit ist, habe ich da gelernt, aber leider in einer Form, die für mich als jungen Menschen auch außerordentlich belastend war: Gläubigkeit wurde gemessen an einem nachweisbaren Bekehrungserlebnis und am freien Gebet. Kirche, Liturgie, ein „abgelesenes“ Gebet waren Zeichen mangelnder Gläubigkeit.
Beim Kennenlernen der evangelischen Messe verließ ich einen dunklen, schmucklosen Raum mit mächtigem Katheder und Sprüchen an den Wänden und betrat einen weiten Raum festlicher Feier, in der für mich mit allen Sinnen, im Gesang, in Gewändern und Farben und Gesten erfahrbar wurde, was Glaubensvollzug im Gottesdienst ist: nicht Lehrveranstaltung, sondern Fest!
In der Regel der Michaelsbruderschaft, der ich nun 57 Jahre angehöre, steht der Satz: „Die Bruderschaft weiß sich zum Dienst in der Kirche gerufen. Ihrem Aufbau gilt der Einsatz ihrer Kräfte.“ Das gilt nicht nur für den Gottesdienst. Aber der Dienst als Prädikant ist Konsequenz aus dieser bruderschaftlichen Verpflichtung.
Aus meinen persönlichen Erfahrungen mit dir weiß ich, wie sehr dir die Evangelische Messe am Herzen liegt. Seit vielen Jahren wird sie an der Universitätskirche gefeiert. Für viele Menschen, auch über die Gemeindegrenzen hinaus, hat sie eine wichtige Bedeutung. Auch ich feiere sie gerne, sowohl als Liturg wie auch einfach als Gottesdienstbesucher. Was liegt dir besonders an der Messe?
Die Bedeutung der Evangelischen Messe für meinen Lebensweg habe ich schon erwähnt. Für mich ist sie – nach Möglichkeit wöchentlich gefeiert – in Wort und Sakrament Lebenselement geworden. Sie ist exemplarisch gelebter Glaube, im Hören der Verkündigung und in der aus der Tradition der Kirche übernommen Gestalt des Abendmahls. Ein Gang durch die Heilsgeschichte, gebetete, nicht gelehrte, Trinität Gottes: Im Offertorium die Erinnerung an die Schöpfung und die Darbringung der Schöpfungsgaben; in Abendmahlsworten und der Anamnese [dem Gedächtnis des Lebens und Sterbens Jesu] die Erlösung durch Christus; in der Epiklese die Anrufung des Heiligen Geistes, und schließlich in der Kommunion: die exemplarische Gestalt der Gemeinde.
Ja, die Messe ist etwas sehr Organisches. Das spüre ich, wenn ich sie feiere. Wo erfährt man mehr über die Evangelische Messe?
Man kann mich gerne ansprechen, mich anrufen [Tel. (06420) 7515] oder mir schreiben [E‑Mail: zimmermann.marburg@t‑online.de].
Vielen Dank, lieber Willi, für das Gespräch! Dir wünsche ich weiterhin viel Freude in deinem Dienst als Prädikant, der nur eine andere Nuance bekommen hat. Denn deine geistlichen Rechte behältst du ja trotz deiner Verabschiedung. Uns beiden wünsche ich noch etliche gemeinsame Jahre in der Gemeinde. Denn ich möchte in deine Fußstapfen treten und noch möglichst viel von dir lernen.
Ich wünsche dir, lieber Jörg, dass du in deinem Dienst als Prädikant so Erfüllung und Freude findest wie ich, und dass wir in diesem Dienst noch eine Weile verbunden bleiben.