Der russische Aufklärer Michail Vasilevič Lomonosov und die Universitätskirche
An der Alten Universität, nur ein paar Schritte von der Universitätskirche entfernt, erinnert eine Gedenktafel an den Marburger Studienaufenthalt des russischen Aufklärers und Universalgelehrten Michail Vasilevič Lomonosov (1711–1765). Auf der Tafel sind Verse aus einer Ode an die Zarin Elisabeth (1741–1762) zu lesen:
Βезде исследуйте всечасно,
Что есть велико и прекрасно,
Чего еще не видел свет.Überall erforschet ohne Unterlass,
Was herrlich ist und wunderschön,
Was die Welt noch nicht geseh’n.(Ode vom 27. August 1750, in: Werke, Bd. 8, Moskau/Leningrad 1959)
Aufgang Alte Universität an der Untergasse
Am Aufgang ist die Gedenktafel für M.V. Lomonosov zu sehen
Wenig bekannt ist, dass Lomonosov, der zusammen mit zwei weiteren russischen Studenten zwischen 1736 und 1741 in Marburg studierte, auch zur Universitätskirche eine enge Verbindung hatte. Denn hier hat er am 6. Juni 1740 die Marburger Bürgerin Elisabeth Christiane Zilch geheiratet. Ihre erste Tochter, Catharina Elisabeth, war am 19. November 1739 in der Universitätskirche getauft worden und am 1. Januar 1742 wurde hier auch der Sohn Johannes getauft, der aber schon einen Monat später starb.
Eintragung im Immatrikulationsverzeichnis der Marburger Universität vom 17. November 1736
Lomonosov hat während seines Studienaufenthalts bei der Familie Zilch gewohnt, die zur niederhessisch reformierten Kirche und damit zur Gemeinde der Universitätskirche gehörte. Der Vater Elisabeths, Heinrich Zilch (gest. zwischen 1732 und 1739), stammte aus Solz bei Bebra, war dort Gutsverwalter gewesen und wurde in Marburg Bierbrauer. Er gehörte dem Stadtrat an und war Kirchenältester der reformierten Gemeinde.
Eintrag im Kirchenbuch der reformierten Gemeinde über die Heirat Michail Lomonosovs und Elisabeth Zilchs am 6. Juni 1740
Eintragungen im Kirchenbuch der reformierten Gemeinde zur Taufe und zum Begräbnis des Sohnes Johannes (1. Januar und 7. Februar 1742)
Wo Lomonosov tatsächlich gewohnt hat, ist nicht ganz sicher: Wahrscheinlich befand sich das Haus an der Ecke Barfüßerstraße/Heumarkt
Barfüßerstraße/Heumarkt
Möglich ist aber auch das große Fachwerkhaus in der Wendelgasse, an dem heute eine kleine Tafel an ihn erinnert.
Wendelgasse
Der Weg nach Marburg
Lomonosov wuchs im Gouvernement Archangel’sk auf der Insel Kurostrov als Sohn eines Fischers auf. Dort kam er in Kontakt mit der Gemeinschaft der „Altgläubigen“ (auch: „Altritualisten“), die sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts gegen liturgische und orthographische Reformen in der Russisch-Orthodoxen Kirche gewandt hatten und deshalb andauernden Verfolgungen ausgesetzt waren. In einer weitgehend analphabetischen Umgebung dürfte das Schrifttum dieser Kirche zu den Grundlagen von Lomonosovs Bildung gehört haben. Ihre Verfolgung seitens des Staates und der offiziellen Kirche und ihre beeindruckende Frömmigkeit haben wahrscheinlich seine spätere Trennung von Welt und Glaube, Wissenschaft und Religion beeinflusst. Er konnte aber der Weltverneinung und Skepsis der Altgläubigen gegenüber jeder Art von Erneuerung und Modernisierung nicht folgen. Während sie die Westöffnung Russlands unter Peter I. (1685–1762) ablehnten, hat Lomonosov den „Reformzaren“ zeit seines Lebens tief verehrt. Er war ein „Mensch aus Peters Nest“, wie der russische Kulturologe Jurij Lotman die von den Petrinischen Reformen geprägte russische Elite des 18. Jahrhunderts genannt hat.
Peter I. (1672–1725)
1730 schloss sich Lomonosov einem Handelszug nach Moskau an, wo er 1731 in die 1685 gegründete „Slavisch-griechisch-lateinische Akademie“ aufgenommen wurde. 1734 wechselte er an die Akademie in Kiev und erhielt 1735 die Möglichkeit zum Studium an der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, von wo er wiederum ein Jahr später, 1736, mit den Kommilitonen Gustav Ulrich Raiser und Dmitrij Vinogradov zum Studium nach Deutschland gesandt wurde. Das eigentliche Ziel der russischen Studenten war die Bergakademie im sächsischen Freiberg, denn die Akademie suchte vor allem Metallurgen und Bergleute für Expeditionen nach Sibirien. Zu einer Art Propädeutikum gingen sie jedoch zuerst nach Marburg an der Lahn, wo der damals weltberühmte Christian Wolff (1679–1754) die Betreuung der Gaststudenten zugesagt hatte. 1739 reisten sie nach Freiberg ab. Für Lomonosov wurde es jedoch ein nur kurzer Aufenthalt von Juli 1739 bis Mai 1740. Aus Unzufriedenheit mit seinem Lehrer, dem Bergrat J.F. Henckel, mit dem er sich schnell überwarf, kehrte er eigenmächtig nach Marburg zurück. Unterwegs geriet er in die Fänge preußischer Soldatenwerber, denen er nur knapp entkam. 1741 verließ Lomonosov Marburg. In Russland hatte er seine Ehe mit Elisabeth Zilch zunächst verschwiegen, und es dauerte zwei Jahre bis sie 1743 zusammen mit der ersten Tochter und ihrem Bruder auch nach Petersburg übersiedeln konnte. 1749 wurde die zweite Tochter, Elena, geboren.
Der Universalgelehrte
Lomonosov studierte in Marburg unter anderem Chemie bei J.G. Duising und Philosophie bei Christian Wolff, der ihn in seinem Denken nachhaltig beeinflusste. Wolff vertrat die radikal aufklärerische Position, in einem vernünftigen klar rationalen Diskurs alles erklären zu können. Die „Welt-Weisheit“ (Philosophie) definierte er als „Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind“. Und von diesem Anspruch zeugen auch die Titel seiner wichtigsten Werke: „Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit“ (1713); „Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen“ (1720); „Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen“ (1721)
Christian Wolff (1679–1754)
Haus von Christian Wolff an der Marktgasse
Lomonosov folgte Wolff in seinem radikalen Erklärungsanspruch. Aber er war auch Naturwissenschaftler, und zahlreiche philosophische Bemerkungen finden sich charakteristischer Weise nicht in eigenständigen philosophischen Schriften, sondern im Rahmen naturwissenschaftlicher Abhandlungen: zur Planetenbeobachtung, zur Metallurgie, zur Chemie und vor allem zur Physik. Lomonosov wollte sich in diesen Forschungen wissenschaftstheoretischer Grundlagen vergewissern. Dazu reichte ihm das Denksystem Wolffs bald nicht mehr aus. Anders als dieser vertrat er einen atomistisches Weltbild. Schon in Marburg entwickelte er in Ansätzen seine „Korpuskulartheorie“: Alle Materie sei aus kleinsten unteilbaren Teilen zusammengesetzt, den Korpuskeln. Werden diese Ur-Teilchen gefunden, so ließe sich die ganze materielle Welt erschöpfend erklären. Lomonosov beanspruchte aber nicht, damit auch die Welt des Geistes und der Religion erfassen zu können. Er war ein Universalgelehrter, der für alles zwar die gleichen Prinzipien des Denkens annahm, aber den verschiedenen Wissensbereichen unterschiedliche Erkenntnisaufgaben und gesellschaftliche Funktionen zuwies. Denn in allem, was er tat, fragte Lomonosov nach dem gesellschaftlichen Nutzen, den es bringen sollte. Das entsprach ganz dem Geist der Reformen unter Peter I. Dieser hatte gefordert: „Adlig ist, wer nützlich ist“. Lomonosov sagte in einer „Lobrede auf den Nutzen der Chemie“ (1751):
Wenn ich über das Wohlergehen des menschlichen Lebens nachdenke, meine Zuhörer, so finde ich nichts Vollkommeneres, als durch angenehme und untadelige Arbeiten Nutzen zu bringen.
(Werke, Bd. 2, Moskau/Leningrad 1952)
Die Naturwissenschaften sollten zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands beitragen. Lomonosov war beteiligt am aufkommenden Hüttenwesen. Er gründete Mosaikfabriken (deren Direktor sein Schwager wurde) und war maßgeblich an der Gründung der Moskauer Universität beteiligt, die in der Sowjetunion nach ihm benannt wurde und bis heute seinen Namen trägt.
Nicht weniger wurde Lomonosov jedoch auch als Dichter (unter anderem von Oden auf das Herrscherhaus), als Verfasser einer Geschichte Russlands und ganz besonders der ersten Russischen Grammatik (1755) bekannt. Mit einem gewissen Humor stellte er in deren Vorrede das Russische den westeuropäischen Sprachen nicht nur gleich, sondern stellte es an Ausdrucksstärke und ‑vielfalt über alle anderen Sprachen.
Karl V., Kaiser des römischen Reiches deutscher Nation, sagte, es sei gut, mit Gott spanisch, französisch mit Freunden, deutsch mit Feinden und italienisch mit Frauen zu reden. Hätte er aber Russisch gekonnt, wäre er mit dieser Sprache ausgekommen, denn es verfügt über die Größe des Spanischen, die Lebendigkeit des Französischen, die Festigkeit des Deutschen und die Zärtlichkeit des Italienischen, und außerdem noch über den Reichtum des Griechischen und Lateinischen.
(Werke, Bd. 7, Moskau/Leningrad 1952)
Titelblatt der Russischen Grammatik von 1755.
Das Frontispiz (links) zeigt den aufklärerischen Anspruch: Sonnenlicht (das Licht der Aufklärung) erhellt die Allegorie der Grammatik und das aufgeschlagene Grammatikbuch. In der Sonne ist das Monogramm Elisabeth I. zu sehen, deren
Züge auch die Allegorie der Grammatik trägt.
Titelblatt der deutschen Übersetzung von Lomonosovs Grammatik (1764)
Religion und Kirche
Für Lomonosov war die freie Diskussionsgemeinschaft, in der wissenschaftliche Resultate immer nur unter dem Vorbehalt ihrer möglichen Widerlegung Geltung haben durften, für die Forschung unabdingbar.
Deshalb verteidigte er die Autonomie der Wissenschaften gegenüber dem religiösen Glauben und der Autorität der biblischen Schriften, ohne deren Wahrheit zu verneinen. Lomonosov trennte religiöses und wissenschaftliches Denken voneinander. Für ihn gab es zwei „Bücher“, die unterschiedlich zu lesen seien und die unterschiedliche Aufgaben hätten: Das „Buch der Bibel“ und das „Buch der Natur“. Das „Buch der Natur“ offenbare die Größe Gottes, die Bibel hingegen seinen Willen. In dieser Aufgabenteilung wurden die Natur und ihre Erforschung für Lomonosov sogar zum Evangelium: Wer in das Innere der Schöpfung eindringe und deren Teile in ihren Ordnungen und wechselseitigen Verbindungen erkenne, der erhebe sich nicht nur auf leichten Flügeln entzückt zum Himmel, sondern erlebe „Vergöttlichung“ (in der „Programmschrift“ von 1746, in: Werke, Bd. 1, Moskau/Leningrad 1950).
Bei seinem Marburger Aufenthalt muss Lomonosov von den dortigen Pfarrern sehr beeindruckt gewesen sein. Sie erfüllten wohl seinen Anspruch an das geistliche Amt, den Willen Gottes zu verkünden und zum Nutzen aller beispielhaft vor zu leben. Jedenfalls verfasste er um 1761 eine Denkschrift „Über die Pflichten der Geistlichkeit“, in der er den „evangelischen Pfarrer“ zum Vorbild erklärte:
Die Pastoren lehren in ihren kirchlichen Grundschulen den Kindern, die das ABC lernen, Gottes Gebote mit aller gebührenden Strenge und Eifer. Und bei der Konfirmation vor dem ersten Abendmahl prüfen sie sie zuerst in der Schule und dann in der Kirche über die christliche Lehre. Und wenn einer sich nicht genügend auskennt, wird er nicht zum Abendmahl zugelassen, wo vor sich die Kinder derart fürchten, dass sie alles daran setzen, Gottes Gebote zu kennen und zu erfüllen. (…) Jeder hat dort einen Katechismus, ein Gebetbuch und eine Bibel.
(Werke, Bd. 6, Moskau/Leningrad 1952)
Holger Kuße