Das Dachwerk
Die heutige Universitätskirche ist die Kirche des um 1291 gegründeten Marburger Dominikanerklosters, das wie die anderen Marburger Klöster 1527 aufgelöst und an die neugegründete Universität übergeben worden ist. Bis auf die Kirche und ein Joch des Ostflügels unmittelbar südlich anschließend sind alle Klostergebäude abgerissen worden, als hier Carl Schäfer 1872–1891 den neugotischen Bau der „Alten Universität“ errichtete.
Die spätgotische Kirche ist mit dem hoch aufragenden Chorbereich von drei Jochen und 5/8‑Schluss in den 1290er Jahren begonnen worden, 1308 [d] wurde dann das Dachwerk über dem Chor errichtet. Das für Bettelordenskirchen typische asymmetrische Hallenkirchenschiff, ein gegenüber dem Chor deutlich niedrigeres Mittelschiff mit einem nördlichen Seitenschiff, wurde dann im Laufe des 14. Jahrhunderts westlich angefügt und mit dem Dachwerk um 1420 [d] abgeschlossen.
Querschnitt durch das Dachwerk des Mittelschiffes; Rekonstruktion um 1420 [d]; Breite an der Basis ca. 13,20 m (IBD, nach Aufmaß des Staatsbauamtes Marburg)
Querschnitt durch das Dachwerk des Chores; Rekonstruktion 1308 [d], Breite an der Basis ca. 12,20 m (IBD, nach Aufmaß des Staatsbauamtes Marburg)
Der Bauabfolge entsprechend, finden sich über Chor und Schiff unterschiedliche Konstruktionen. Im Chorbereich ist vor allem östlich des jüngeren Dachreiters (16./17. Jahrhundert) die Konstruktion von 1308 [d], bis hin zu dem vollständig erhaltenen Abwalmungsbereich über dem Polygon, noch deutlich ablesbar: Es handelt sich um ein Hängesäulendachwerk des auch von anderen Marburger Kirchen bekannten Typs mit aufgeblatteten Kehlbalken und Fußstreben, bei dem sich jeweils ein Binder- und ein Leergespärre abwechseln. Die Hängesäulen werden durch drei eingezapfte Riegelreihen, die oberste unmittelbar unter dem First, auf Abstand gehalten. Für die Aussteifung sorgen in der unteren Ebene eingezapfte Kopfbänder, und darüber Langstreben, die sich in zwei Ebenen übereinander als Andreaskreuze schneiden. An der östlichen Hängesäule setzt die Konstruktion der Abwalmung über dem Ostpolygon an, wobei auf Konsolen der Säule die radialen Stichbalken der Halbgebinde des Chorpolygons aufliegen.
Eine mit dem östlichen Bereich vergleichbare Mittelkonstruktion muss auch westlich des Dachreiters vorhanden gewesen sein; allerdings ist hier die Konstruktion nachträglich bereits stark verändert und das Hängesäulengefüge durch einen dreifachen stehenden Stuhl unterfangen worden.
Längsschnitt durch das Dachwerk des Chores; Bestand; Länge an der Basis ca. 22,40 m (IBD, nach Aufmaß des Staatsbauamtes Marburg)
Das wegen der geringeren Höhe dieses Bauabschnittes wesentlich niedriger ansetzende, nach Westen anschließende Dachwerk über dem Kirchenschiff, das wie bei der Elisabethkirche und der Lutherischen Pfarrkirche aus dem Mittelschiffdachwerk und den Querdächern über den Jochen des nördlichen Seitenschiffes zusammengesetzt ist, wurde im Jahre 1927 stark verändert, als die bis dahin vorhandene Flachdecke, für die die Dachkonstruktion ursprünglich konzipiert worden war, durch eine neue Holztonne ersetzt wurde. Dies hatte den vollständigen Verlust der durchlaufenden Dachbalken und der unteren Teile der Hängesäulen zur Folge. In der Rekonstruktionszeichnung ist dargestellt, wie man um 1420 [d] das Dach konstruiert hatte: Abweichend von den inzwischen üblichen Hängesäulen, die schon durch ihre Kopfausbildung ihre Funktion erfüllten, verwendete man hier eine normale Spitzsäule, die aber, wie bei der Elisabethkirche 1248, durch sparrenparallele Schwertungen Last auf die Außenwände ableiten konnte. Die ältere Konstruktion der Elisabethkirche wurde nur insofern weiterentwickelt, als man die Schwertungen mit Versatz in die Hängesäulen einzapfte.
Ulrich Klein, Freies Institut für Bauforschung und Dokumentation e.V. (IBD)
(zuerst erschienen in: Mittelalterliche Dachwerke Marburger Kirchen, Faltblatt Bürgerinformation 74/1997 des Magistrats der Universitätsstadt Marburg, Marburg 1997)
Anmerkung
- ↑ Die mit d bezeichneten Jahreszahlen sind dendrochronologisch ermittelt. Die unterschiedlichen Breiten der Jahresringe des verwendeten Holzes ermöglichen eine exakte Datierung der verschiedenen Phasen der Entstehung des Dachwerkes.