Im Herbst des vergangenen Jahres hatte der „Runde Tisch der Religionen in Marburg“ zu zwei Veranstaltungen eingeladen: zum „Friedensweg der Religionen“, der vom Markplatz in die Universitätskirche und die neue Moschee, dann in das Shambhalla-Zentrum der Buddhisten und schließlich in die Synagoge führte. An jeder Station stellten wir uns die Frage: „Kann die Religion bzw. unser Glaube etwas für den gesellschaftlichen Frieden austragen?“ Bei einem weiteren Gesprächsabend ging es um das Thema „Gesundheit und Achtsamkeit in Zeiten der Pandemie.“ Die vielseitigen Impulse und anregenden Gespräche waren für die meisten Teilnehmenden überaus wohltuend. Mir als Pfarrer wurde bei diesen Gesprächen bewusst: Die meisten Sorgen, Ängste und Hoffnungen (!) teile ich nicht nur mit meinen christlichen Schwestern und Brüdern, sondern auch mit meinen muslimischen, jüdischen und buddhistischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Und so unterschiedlich die Glaubensansätze, Auffassungen und Praktiken der Menschen der jeweiligen Religionsgemeinschaften in Marburg sein mögen — alle waren sich einig, dass die Religionsgemeinschaften eine hohe Verantwortung für den gesellschaftlichen Frieden und die „heimische Kultur“ haben. Nicht nur angesichts von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus, sondern auch angesichts der Herausforderungen der Pandemie, die zunehmend den gesellschaftlichen Frieden gefährden. Immer wieder fielen die Begriffe „Verantwortung, Achtsamkeit und Zusammenhalt“. Als ein Wert oder eine Haltung, als Zeichen von Solidarität und Zivilcourage. Auch waren sich die meisten Teilnehmenden darin einig, die noch „Zögerlichen“ — die es übrigens in allen Religionsgemeinschaften und Gemeinden gibt — von einer Impfung gegen das Virus zu überzeugen.
Was wird wohl das Neue Jahr 2022 bringen? Ich vermute: Der Zusammenhalt der Gesellschaft wird auch in diesem Jahr ein Thema sein. Und die Frage nach Wachsamkeit und Achtsamkeit eine große Rolle spielen. Und auch wir Christen tragen eine hohe Verantwortung, wie wir unseren Glauben leben und bezeugen, wie wir mit unseren Nächsten (und Fernsten) umgehen und was wir verantwortlich tun sollten. Als Christen kommen wir von Weihnachten her. Wir glauben an einen Gott, der in Jesus Mensch geworden ist und der durch Christus die ganze Welt retten will. Da setzt übrigens die Jahreslosung 2022 (Joh 6,37) an: Jesus Christus spricht: „Alles, was mir der Vater gibt, das kommt zu mir; und wer zu mir kommt, den werde ich nicht verstoßen.“ Das kann man natürlich verschieden deuten: Werden nur diejenigen gerettet, die (zuvor) zu Christus gekommen sind? Das wäre reichlich exklusiv. Oder verstehen wir die Worte Jesu eher inklusiv: Nämlich, dass Gott will, dass möglichst alle Menschen gerettet werden und dass am Ende niemand von Christus abgewiesen wird. Ich denke, das wäre eher im Sinne Christi.
Was also wird das neue Jahr bringen? Ich glaube, Verantwortung, Achtsamkeit und Zusammennhalt zu leben, ist uns als Christen möglich, wenn wir Halt finden. Spannungen und Ungewissheiten in diesen Zeiten auszuhalten erfordert, sich selbst gehalten zu wissen. So manches wird uns hoffentlich auch in diesem Jahr Halt geben: die Familie, Freunde, der Beruf, die Schule, die Universität, die Natur und Kultur und das vielfältige kirchengemeindliche Leben in Marburg. Und am Anfang und Ende auch der Glaube, von Gott gehalten zu sein. Auch davon kündet die Jahreslosung. Jesus Christus weist niemanden ab auf dem Weg zu Gott. Bleiben Sie behütet!
Von Joachim Simon
Pfarrer der Universitätskirchengemeinde Marburg
(Foto: G. Erne)