Eines der originellsten und meistgekauften theologischen Bücher des 20. Jahrhunderts erschien im Jahr 1917: „Das Heilige“. Sein Untertitel lautet programmatisch: „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“. Sein Verfasser, der Marburger Universitätsprofessor Rudolf Otto (1869–1937), gehörte zu den Pionieren der Religionswissenschaft. Er unternahm Forschungsreisen in den Nahen und den Fernen Osten. Die Gegenstände, die er davon mitbrachte, bildeten den Grundstock für die Religionskundliche Sammlung in der Alten Landgräflichen Kanzlei. Zum Werk Ottos wird es vom 4. bis 7. Oktober 2012 einen Forschungskongress am Fachbereich Evangelische Theologie geben.
Otto ging davon aus, dass der Mensch „das Heilige“ erfahren kann und zwar als „das Ganz Andere“, als „Mysterium“, das ihn erschaudern lässt und andererseits fasziniert. Weniger bekannt ist, dass Rudolf Otto auf der Grundlage seiner Erkenntnisse über „das Heilige“ Überlegungen und konkrete Konzepte „Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes“ in Buchform veröffentlichte. Die „Anbetung“ Gottes sollte auch in der christlichen Liturgie besonderen Ausdruck finden, und zwar als eigentlicher Höhepunkt des Gottesdienstes nach der Wortverkündigung in der Predigt. Otto schlug vor, dass die Gemeinde dabei, angeleitet mit den Worten „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel. Es sei stille vor ihm alle Welt“ (Habakuk 2,20), niederkniet und im „schweigenden Gedenken“ innehält. Nach diesem „schweigenden Dienst“ erhebt sich die Gemeinde auf einen dreifachen Glockenschlag hin und betet gemeinsam das Vaterunser. Für diesen Gottesdienst stand Otto modellhaft die Marburger St.-Jost-Kapelle vor Augen, wo er entsprechende liturgische Versuche in überschaubarer Runde unternommen hatte. Ottos Arbeit in St. Jost wurde übrigens im Jahr 1936 vom Kirchenvorstand der Lutherischen Pfarrkirche, zu der das Kapellchen damals gehörte, als „Wiederbelebung“ des gottesdienstlichen Lebens in St. Jost gewürdigt.
Rudolf Otto: Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, S. 98 f. (PDF)
Rudolf Otto suchte auch nach einem anschaulichen Zeichen im Kirchenraum für Gottes Gegenwart, der sich die Gemeinde schweigend und dann anbetend näherte. Ein Altarkreuz war dazu weniger geeignet, weil dies eben speziell für Gottes Offenbarung in Jesus Christus, den Sohn, steht. Otto entwarf einen Raum, der entfernt an St. Jost erinnert, doch wesentlich weiter war. Er wird bestimmt von einem zentralen Bild-Symbol, das zur Anbetung Gottes führt. Die in Ottos Buch wiedergegebene Zeichnung zeigt einen Chorraum, an dessen Ostrand, über dem Altar auf einem großen, lichtdurchfluteten Glasfenster die Inschrift „Vater unser“ zu lesen ist. Im „schweigenden Gedenken“, beschlossen vom gemeinsamen, wie eine Gebetsformel gesprochenen Vaterunser sah Rudolf Otto gleichsam ein Sakrament, das „das Heilige“, nämlich Gottes Gegenwart unmittelbar erfahrbar macht.
Wolfgang Huber
Literatur
- Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1979
- Rudolf Otto: Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, Gießen 1925
- Katharina Wiefel-Jenner: Rudolf Ottos Liturgik, Göttingen 1997, S. 34f und S. 195–200
- Bernhard Lang: Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes, München 1998, S. 116–118