Wolfgang Kessler und Josef Rother / Kino Capitol (Fotos: Jörg Rustmeier)
Ein Abend über die Opfer und die Täter der Finanzkrise
„Der Westen, der mit 12,8 Prozent der Weltbevölkerung eine Minderheit ist, herrscht über den Planeten seit über fünfhundert Jahren. Ende des 15. Jahrhunderts, als die Erde rund geworden ist, nach der vierten Reise von Kolumbus, findet der Genozid in Lateinamerika statt. Dann gab es 350 Jahre Sklavenhandel, dann 150 Jahre lang die Kolonialmassaker und die Territorialbesetzung. Heute gibt es die Tyrannei des globalisierten Finanzkapitals. Letztes Jahr haben die fünfhundert größten Privatkonzerne der Welt nach Weltbankstatistiken gemeinsam über 52 Prozent des Weltsozialproduktes beherrscht. Dieses Finanzkapital in den Händen einiger westlicher Oligarchen hat eine Macht, die nie zuvor in der Geschichte der Menschheit ein König, ein Kaiser oder ein Papst gehabt hat.“
Mit diesem drastischen Zitat von Jean Ziegler, ehemals UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, eröffnete Josef Rother vom Eine-Welt-Kugel-Kreis (Katholische Kirchengemeinde St. Johannes Ev.) am Dienstag, dem 6. März, den Abend im vollbesetzten Kinosaal und war damit gleich am Kern des Themas angelangt: Die katastrophalen Auswirkungen des internationalen Finanzsystems, die wir alle zu spüren bekommen, vielmehr aber noch die Menschen in den ärmsten Ländern der Welt, die aufgrund globaler Finanzspekulationen von ihrer Arbeit nicht mehr leben können.
Es war bereits die zweite Veranstaltung zu diesem Thema in einem Marburger Kino. Die erste fand drei Wochen zuvor statt und war ebenfalls völlig ausgebucht. Allein diese Tatsache macht deutlich, dass vielen Menschen das Thema auf der Seele brennt. Entsprechend breit war auch der Initiatorenkreis der Veranstaltung: Neben dem Eine-Welt-Kugel-Kreis die Steuerungsgruppe „Fairer Handel“ der Universitätsstadt Marburg, die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, der Weltladen Marburg, attac Marburg, die Christliche Friedensinitiative Marburg sowie das Kino Cineplex Marburg.
Wolfgang Kessler, Ökonom und Chefredakteur der kritisch-christlichen Zeitung Publik-Forum erläuterte in seinem Vortrag mit einfachen Worten die komplizierten Zusammenhänge des globalen Finanzsystems, so dass sie auch Nicht-Ökonomen verständlich wurden. Dabei sprach er auch das innere Befinden vieler Zuhörer an: Der Mensch hat beim Geld zwei Seiten, eine gierige und eine soziale. Einerseits möchte er immer mehr haben, aber andererseits auch etwas für die Menschen und die Verbesserung der Welt tun. Beim Einkaufen macht sich dieses Bewusstsein schon bemerkbar: Immerhin kaufen acht Prozent der Kunden Bio- und fair gehandelte Produkte. Beim Geldanlegen sieht das aber anders aus: 99 Prozent der Bankkunden geben ihr Geld und damit auch ihr Gewissen am Bankschalter ab, denn sie erwarten nur, dass sie nach einiger Zeit ihre Zinzen oder Rendite erhalten, egal woher das Geld kommt. Dabei können sie sicher sein: Wenn sie hier einen Gewinn aus Geldgeschäften erzielen, wird es anderen irgendwo auf der Welt vorenthalten, wobei es nicht selten um deren Existenz geht. Auch die kommunalen Sparkassen und Volksbanken wirtschaften nicht uneingeschränkt nach ethischen Prinzipien.
So richteten sich im Anschluss an den Vortrag die Fragen der Zuhörer auch nach der Wahl der richtigen Bank: Die GLS-Bank agiere hier mustergültig, meinte Kessler. Aber auch bei anderen alternativen Geldinstituten, wie der Umweltbank, der Ethikbank oder der Triodos-Bank, könne der Kunde selbst bestimmen, wie sein Geld angelegt wird. Lokale Projekte im sozialen und im Umweltbereich würden dabei bevorzugt. Weiteren Fragen und Kommentaren stellten sich Kessler und Bürgermeister Franz Kahle, der für die Stadt Marburg sprach.
Baumwollernte in Burkina Faso (Foto: Dokumentarfilm „Let’s Make Money“)
Kessler bot mehrere Lösungen an hin zu der dringend notwendigen Finanzwende, der in Deutschland bisher die marktradikale Politik aller Regierungen seit der Öffnung zum Wirtschaftsliberalismus unter der rot-grünen Bundesregierung im Wege steht: Die Verpflichtung der Banken, mehr Eigenkapital vorzuhalten, eine Finanztransaktionssteuer, die Trennung von Investment- und Geschäftsbanken, Kontrolle der Schattenbanken und Steueroasen, Erlass von Auslandsschulden sowie Mithaftung der Gläubiger statt Sozialisierung ihrer Verluste.
Ein Zuhörer äußerte Zweifel an der Änderbarkeit der derzeitigen Finanzmarktmechanismen und den damit verbundenen Krisen und negativen Folgen für arme Länder. Kessler meinte, die Anhaltspunkte für den Pessimismus überwögen, aber es gäbe reale Chancen für einen Optimismus. Diese lägen an der Aktivität der Bürger und ihrem Widerstand gegen die bisherigen Strukturen. Ein Schüler beklagte, dass er im Politikunterricht nichts von den Zusammenhängen des Finanzsystems gehört habe, und forderte bessere Informationen in den Schulen. Kessler gab ihm grundsätzlich Recht, wies aber darauf hin, dass Informationen in der Schule nur sinnvoll seien, wenn das Finanzsystem nicht nur erklärt, sondern auch kritisch hinterfragt würde.
Gerhard Schwarz, NZZ (Foto: Dokumentarfilm „Let’s Make Money“)
Im Anschluss an den Vortrag und die Diskussion wurde der zweite, längere Teil des Dokumentarfilms „Let’s Make Money“ (2008) des österreichischen Filmemachers Erwin Wagenhofer gezeigt, dessen Anfang vor Kesslers Vortrag zu sehen war. Die globalen Zusammenhänge des Finanzsystems wurden hier noch einmal, ohne jeden wertenden Filmkommentar, deutlich vor Augen geführt. Zum Beispiel: Frauen in Burkina Faso pflücken Baumwolle und klagen an, dass sie von dieser harten Arbeit nicht leben könnten, weil sie fast kein Geld einbringe. Dabei handelt es sich um die beste Baumwolle der Welt, die ganz von Hand gepflückt und sortiert wird. Obwohl gleichzeitig die billigste der Welt, ist sie gegenüber der amerikanischen Baumwolle, die von der US-Regierung aus finanzpolitischen Gründen subventioniert wird, nicht konkurrenzfähig. Der Produktionsmanager Francis Kologo aus Burkina Faso stellt die Konsequenzen drastisch dar: „Wenn der Westen seine Baumwollsubventionen nicht stoppt, dann sind wir gezwungen zu gehen. Wenn wir auswandern, können sie ruhig zehn Meter hohe Mauern bauen. Wir werden trotzdem nach Europa kommen.“
Harter Schnitt zum Mont Pèlerin mit Blick über den Genfer See, dort wo der sogenannte Neoliberalismus, der in den 80er Jahren durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher forciert wurde, seinen weltweiten Anfang nahm. Wir sehen und hören Gerhard Schwarz, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ): „Alle Liberalen dieser Welt sind der Meinung, dass Grenzen offen sein sollten für Güter, für Geld und für Dienstleistungen. Schwieriger wird es bei Menschen. Da muss man sich überlegen, ob man nicht eine Art Eintrittspreis verlangen müsste“, denn „ein Neuer profitiert von etwas, zu dem er nichts beigetragen hat.“ – Deutlicher ist der Konflikt, der aus der „Tyrannei des globalisierten Finanzkapitals“ (Jean Ziegler) resultiert, kaum auf den Punkt zu bringen.
Jörg Rustmeier
Weitere Informationen:
→ www.letsmakemoney.at
→ Wolfgang Kessler: Geld regiert die Welt. Wer regiert das Geld? Publik-Forum Streitschrift, 2011
→ Ankündigung der Veranstaltung