350 Jahre evangelischer Gottesdienst in der Universitätskirche

Als im Som­mer 1658 Hie­ro­ny­mus Wet­zel, refor­mier­ter Pre­di­ger zu Mar­burg, in der am „Päd­ago­gio uffs new repa­rir­ten Refor­mier­ten Kirch“ die ers­te evan­ge­li­sche Pre­digt hielt, lagen hin­ter der Stadt Mar­burg und ihrer Uni­ver­si­tät schwe­re Zeiten.

Ange­fan­gen hat­te alles damit, dass Land­graf Phil­ipp der Groß­mü­ti­ge das Hes­sen­land unter sei­ne Söh­ne auf­ge­teilt hat­te. Sein zweit­äl­tes­ter Sohn Lud­wig erhielt Ober­hes­sen mit Gie­ßen und Mar­burg. In sei­ner Resi­denz Mar­burg ent­fal­te­te er ein rei­ches höfi­sches Leben, das letz­te in der Geschich­te der Stadt. 1604 starb er kin­der­los und teil­te Ober­hes­sen zwi­schen sei­nen Nef­fen Moritz in Kas­sel, der den Mar­bur­ger Teil erhielt und Georg in Darm­stadt auf, dem der Gie­ße­ner Teil zufiel. Schon zu sei­nen Leb­zei­ten hat­te der altern­de Land­graf sei­nem Kas­se­ler Nef­fen miss­traut, der zum Cal­vi­nis­mus neig­te und bereits eine ent­spre­chen­de Kir­chen­re­form in Nord­hes­sen durch­ge­führt hat­te. So ver­füg­te Lud­wig IV. in sei­nem Tes­ta­ment, dass der­je­ni­ge sei­nes Erb­tei­les ver­lus­tig gehen soll­te, der das her­ge­brach­te Luther­tum in Ober­hes­sen antastete.

Moritz von Hes­sen-Kas­sel küm­mer­te das nicht. Kaum hat­te er das Mar­bur­ger Ober­hes­sen ein­ge­nom­men, führ­te er mit gro­ßer Här­te sei­ne Kir­chen­re­form durch. Reni­ten­te Beam­te, Geist­li­che und Pro­fes­so­ren der Uni­ver­si­tät wur­den amts­ent­ho­ben und des Lan­des ver­wie­sen. Sie fan­den Zuflucht bei Land­graf Lud­wig V. in Darm­stadt, der mit ihnen 1608 in Gie­ßen eine luthe­ri­sche Gegen­uni­ver­si­tät gegen Mar­burg grün­de­te. Zudem ver­klag­te er sei­nen Vet­ter beim Kai­ser auf Bruch der Tes­ta­ments­be­stim­mun­gen und for­der­te das Mar­bur­ger Ober­hes­sen für Darm­stadt ein. Er bekam Recht, sodass im Zuge des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges Mar­schall Til­ly mit kai­ser­li­chen und süd­hes­si­schen Trup­pen 1624 Mar­burg besetz­te. Das Luther­tum und die ein­heit­li­che luthe­ri­sche Lan­des­uni­ver­si­tät wur­den wie­der her­ge­stellt. Erst in den aller­letz­ten Jah­ren des Krie­ges gelang es Hes­sen-Kas­sel, wie­der in den Besitz von Mar­burg zu kom­men, und salo­mo­nisch leg­te der West­fä­li­sche Frie­de fest, dass zwar das Mar­bur­ger Ober­hes­sen luthe­risch blei­ben müs­se, aber zurück nach Hes­sen-Kas­sel kom­me. Unter die­sen Bedin­gun­gen war das Darm­städ­ter Fürs­ten­haus nicht bereit, sei­nen Anteil an der hes­si­schen Lan­des­uni­ver­si­tät in Mar­burg zu belas­sen und ver­leg­te sei­ne Lan­des­uni­ver­si­tät nun end­gül­tig nach Gie­ßen. Das Mar­bur­ger Uni­ver­si­täts­er­be trat die nie­der­hes­sisch-refor­mier­te Kas­se­ler Aka­de­mie an, als sie 1653 nach Mar­burg ver­legt wur­de. Der eigen­ar­ti­ge Fall trat ein, dass sich eine refor­mier­te Uni­ver­si­tät in einer luthe­ri­schen Stadt befand.

Seit der 1646 erfolg­ten krie­ge­ri­schen Wie­der­be­set­zung Mar­burgs durch Hes­sen-Kas­sel ent­stand dort eine klei­ne, aber stän­dig wach­sen­de refor­mier­te Gemein­de aus Beam­ten, Mili­tär und Juris­ten, die von einem Feld­pre­di­ger Bar­tho­lo­mä­us Tho­mas bis 1653 betreut wur­de. Sei­ne refor­mier­ten Got­tes­diens­te fan­den zunächst in der Schloss­ka­pel­le statt, spä­ter in der etwas grö­ße­ren Kugel­kir­che, die zur Sti­pen­dia­ten­an­stalt gehör­te. Doch als die nun­mehr refor­mier­te Phil­ipps-Uni­ver­si­tät wie­der eröff­net wür­de, reich­te auch sie nicht mehr aus.

Land­graf Wil­helm VI. von Hes­sen-Kas­sel, der von 1650 bis 1663 regier­te, nahm sich in beson­de­rer Wei­se der anwach­sen­den Gemein­de an. Er bestell­te Hie­ro­ny­mus Wet­zel als Seel­sor­ger und Pre­di­ger für die Gemein­de und bestimm­te, dass ein Pro­fes­sor der Theo­lo­gie Uni­ver­si­täts­pre­di­ger und zwei­ter Pfar­rer der Gemein­de sein soll­te. Dies wur­de Sebas­ti­an Curtz, der bis 1684 wirk­te. Wet­zel betreu­te die Gemein­de von 1653 bis 1668. Sein beson­de­res Wohl­wol­len für die Gemein­de bekun­de­te der Land­graf durch Geschen­ke sil­ber­ner Abend­mahls- und Tauf­ge­rä­te, die bis heu­te noch in der Uni­ver­si­täts­kir­che in Gebrauch sind.

Abend­mahls­kan­ne von 1663 (Bild­ar­chiv Foto Marburg)

Die wich­tigs­te Gabe Wil­helms VI. an die Gemein­de aber war, dass er die völ­lig ver­wahr­los­te und zum Korn­spei­cher umfunk­tio­nier­te Domi­ni­ka­ner­kir­che am Lahn­tor zum evan­ge­li­schen Got­tes­dienst her­rich­ten ließ. Der Fürst über­wach­te selbst den Ein­bau der Empo­ren und die Ver­tei­lung des Gestühls. Jeder Stand der Gemein­de soll­te sei­nen eige­nen Sitz haben, der Hof, die Pro­fes­so­ren, die Stu­den­ten, die Zög­lin­ge des Päd­ago­gi­ums, die Bür­ger­schaft, die Juris­ten des hes­si­schen Samt­ge­richts­ho­fes auf dem Schloss, die Gar­ni­son und die refor­mier­ten Insas­sen der Deutsch-Ordens-Kom­men­de. Es soll­te durch die­se Sitz­ord­nung deut­lich wer­den, dass alle die­se ver­schie­de­nen Stän­de durch das eine refor­mier­te Bekennt­nis fest mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Meh­re­re Jah­re hat die Wie­der­her­stel­lung der Kir­che gedau­ert, bis sie 1658 durch die land­gräf­li­che Regie­rung in Mar­burg der Uni­ver­si­tät und Gemein­de über­ge­ben wur­de. Wie damals das Inne­re der Kir­che aus­ge­se­hen hat, weiß man nicht mehr. An die Aus­stat­tung Wil­helms VI. erin­nern heu­te nur noch die mas­si­ve Stein­plat­te auf Eichen­fü­ßen des Abend­mahls­ti­sches, die präch­ti­ge Kan­zel und das Gewän­de des Tauf­brun­nens. Es soll auch eine Orgel gege­ben haben, erbaut von dem Schmal­kal­di­schen Orgel­bau­er Kas­par Lehmann.

Streng gere­gelt war die Rei­hen­fol­ge des Abend­mahl­s­emp­fangs der ein­zel­nen Stän­de, wie aus einer Ver­ord­nung des Jah­res 1706 her­vor­geht. Zuerst die Rats­herrn, die unter dem Chor saßen, dann die Pro­fes­so­ren auf der Empo­re dar­über, dann der Hof und die Regie­rung auf der West­em­po­re, dann die Büh­ne der Gerichts­be­hör­den, schließ­lich die Stu­den­ten, Beam­ten, Offi­zie­re und Sol­da­ten der Gar­ni­son, die Bür­ger und Zög­lin­ge des Päd­ago­gi­ums im Mit­tel­schiff und an den Sei­ten. Grün­don­ners­tags und zusätz­lich vier­mal im Jahr fan­den die Abend­mahls­fei­ern statt. Das Pres­by­te­ri­um der Gemein­de, dem stets zwei Depu­tier­te der Uni­ver­si­tät ange­hör­ten, hat­te über das sitt­li­che und got­tes­dienst­li­che Leben der Gemein­de und der Uni­ver­si­täts­an­ge­hö­ri­gen zu wachen und das Gemein­de­ver­mö­gen zu ver­wal­ten. Dar­über hat es oft viel Streit gege­ben, denn weder die Uni­ver­si­tät noch das Mili­tär woll­ten sich einer kirch­li­chen Über­wa­chung unterordnen.

Kir­chen­sta­tis­ti­ken von damals gibt es nicht, doch war 1653 die Gemein­de offen­sicht­lich so gewach­sen, dass eine refor­mier­te Schu­le und 1690 ein refor­mier­tes Wai­sen­haus ein­ge­rich­tet wer­den muss­ten. Die Schu­le hat bis 1824 bestan­den und befand sich zeit­wei­lig im Kugel­haus, im Wai­sen­haus am Lahn­tor (heu­te Land­gra­fen­haus) und seit 1671 im Kili­an. Zwei Leh­rer waren an der Schu­le beschäf­tigt, die zugleich den Kan­to­ren- und Küs­ter­dienst ver­sa­hen. Eine wich­ti­ge Rol­le im Gemein­de­le­ben spiel­te die Sti­pen­dia­ten­an­stalt, die im Kugel­haus, der soge­nann­ten Props­tei, unter­ge­bracht war. Sti­pen­dia­ten betei­lig­ten sich stets musi­ka­lisch am Got­tes­dienst der Uni­ver­si­täts­kir­che. Die Sti­pen­di­ats­ma­jo­ren, spä­ter Repe­ten­ten genannt, muss­ten regel­mä­ßig ein­mal wöchent­lich in der Kugel­kir­che für die Sti­pen­dia­ten pre­di­gen und an den zwei­ten Fei­er­ta­gen in der Universitätskirche.

Auch über­nah­men sie Unter­richt im Päd­ago­gi­um. Es wür­de zu weit füh­ren, der lan­gen Geschich­te des evan­ge­li­schen Got­tes­diens­tes an der Uni­ver­si­täts­kir­che im ein­zel­nen nach­zu­ge­hen, vie­les müss­te auch lücken­haft blei­ben. Eine refor­mier­te Kir­che ist eine Kir­che, die sich stän­dig an den Ansprü­chen der hei­li­gen Schrift über­prüft und dabei zu neu­en Lebens­for­men gelangt. Dies ist in der Uni­ver­si­täts­kir­chen­ge­mein­de im rei­chen Maße gesche­hen, zumal da sie als Dia­spo­ra in einer luthe­ri­schen Stadt Jahr­hun­der­te lang zu Tole­ranz und Viel­falt ver­pflich­tet war. Heu­te ist die Uni­ver­si­täts­kir­che als Stät­te der Öku­me­ne und des got­tes­dienst­li­chen Reich­tums nicht aus dem Mosa­ik der Kir­che in Mar­burg weg­zu­den­ken und dafür soll­te man dank­bar sein.

Fried­rich Dickmann

 

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