Historischer Streifzug

Hier erfah­ren Sie Inter­es­san­tes über die Bau- und Kir­chen­ge­schich­te der Uni­ver­si­täts­kir­che sowie den rus­si­schen Auf­klä­rer Michail Vasi­le­vič Lomo­no­sov und des­sen Bezie­hung zur Universitätskirche.

Domi­ni­ka­ner­klos­ter und Uni­ver­si­täts­kir­che vor 1873 (Foto Marburg)

Von der Kirche des Dominikanerklosters zur Universitätskirche [1]

Den Exper­ten gewiss bekannt, wur­den sie beim Stö­bern in den Gemäu­ern der Uni­ver­si­täts­kir­che von Wei­den­häu­ser Schul­kin­dern wie­der ent­deckt: die Zel­len­fens­ter des ehe­ma­li­gen Domi­ni­ka­ner­klos­ters am Lahn­tor, der heu­ti­gen Alten Uni­ver­si­tät. Die klei­nen Fens­ter sind unter dem Dach­ge­bälk des neu­go­ti­schen Kreuz­gan­ges ver­bor­gen, der an der West­wand der Uni­ver­si­täts­au­la vor­bei­führt und deren Ein­gangs­hal­le bil­det. Die mit Zie­gel­stei­nen zuge­mau­er­ten Fens­ter ähneln mit ihren Rah­men aus behaue­nen Sand­stein­blö­cken den Zel­len­fens­tern am Kugel­haus und am ehe­ma­li­gen Fran­zis­ka­ner­klos­ter „Am Plan“, das heu­te der Uni­ver­si­tät als Semi­nar­ge­bäu­de dient. Man­che der Zel­len­fens­ter, hin­ter denen die Domi­ni­ka­ner leb­ten, zei­gen noch die alte Ver­git­te­rung, an allen sind noch die Ver­an­ke­run­gen von Holz­lä­den zu sehen, mit denen einst bei rau­er Wit­te­rung die Fens­ter geschlos­sen wurden.

Das Klos­ter exis­tiert nicht mehr. Die Domi­ni­ka­ner muss­ten Mar­burg 1527 ver­las­sen, das Gebäu­de wich Ende des 19. Jahr­hun­derts dem Neu­bau der Uni­ver­si­tät. Geblie­ben ist jedoch die Kir­che, die bei der Neu­ge­stal­tung der Uni­ver­si­tät als Wahr­zei­chen der Stadt unan­ge­tas­tet blieb. Auf der Süd­sei­te des Schiffs, hoch unter dem Gewöl­be erin­nert eine Inschrift an die drei ent­schei­den­den Daten ihrer bis­he­ri­gen Geschichte:

Im Jah­re 1300 begon­nen, 1658 durch Land­graf Wil­helm VI. für den evan­ge­li­schen Got­tes­dienst wie­der her­ge­stellt. Erneu­ert 1927.

Im Jahre 1300 begonnen

1291 hat­te Land­graf Hein­rich I. von Hes­sen den Mön­chen des Pre­di­ger­or­dens vom Hei­li­gen Domi­ni­kus Land am Lahn­tor über der Wei­den­häu­ser Brü­cke zum Bau eines Klos­ters zur Ver­fü­gung gestellt. Um 1300 ent­stand auf dem Fel­sen über der Lahn der hoch­ra­gen­de Chor der Domi­ni­ka­ner­kir­che und ein sich im rech­ten Win­kel an den Chor der Kir­che anschlie­ßen­des Klos­ter­ge­bäu­de, das Küche, Ess­saal, Schlaf­saal und die Zel­len der Mön­che ent­hielt. Im Lau­fe der Jahr­hun­der­te wuchs das Klos­ter, bis es im Jah­re 1521 den Umfang der heu­ti­gen Alten Uni­ver­si­tät erlangt hat­te, die vom Rudolphs­platz, dem Lahn­tor, der Reit­gas­se und dem Korn­markt umschlos­sen wird. Die Klos­ter­kir­che selbst blieb jedoch ein bau­li­cher Tor­so. Der hoch­ra­gen­de Chor bricht plötz­lich ab, ein fla­ches Kir­chen­schiff mit einem Sei­ten­schiff hin­ter dicken Säu­len schließt das Gan­ze völ­lig unor­ga­nisch ab.

Zu sei­nen bes­ten Zei­ten leb­ten etwa 25 Mön­che im Klos­ter, das unter der Lei­tung eines Pri­o­rs und eines Sub­pri­o­rs stand. Als Buß­pre­di­ger sahen sie sich wie Johan­nes der Täu­fer als „Rufer in der Wüs­te“, und so gaben sie ihrer Klos­ter­kir­che den Namen Johan­nes des Täufers.

Der Tages­lauf der Mön­che war durch vier Gebets­zei­ten gere­gelt, zu denen man sich im Chor der Kir­che traf. Nach dem Wil­len des Orden­stif­ters Domi­ni­kus war es die Auf­ga­be der Pre­di­ger­mön­che, der christ­li­chen Gemein­de mit Ver­kün­di­gung und Seel­sor­ge zu die­nen. Die Zeit im Klos­ter soll­te zum Bibel­stu­di­um, zu theo­lo­gi­scher Arbeit und zur Pfle­ge der Fröm­mig­keit aus­ge­nutzt wer­den. Der regel­mä­ßi­ge Besuch der Armen, Kran­ken, Ver­las­se­nen und Ster­ben­den in der Stadt und ihrer Umge­bung war den Mön­chen Pflicht.

Die Mön­che durf­ten kei­nen per­sön­li­chen Besitz haben. Alles gehör­te der Klos­ter­ge­mein­schaft. Wie Johan­nes der Täu­fer soll­ten sie aus­schließ­lich von Spen­den und mil­den Gaben der Gläu­bi­gen leben, die ihnen frei­wil­lig gereicht wur­den. Aus den Gaben­ver­zeich­nis­sen des Klos­ters, die im Staats­ar­chiv lagern, wis­sen wir, dass die Domi­ni­ka­ner in Mar­burg wegen ihrer Fröm­mig­keit sehr beliebt waren und dar­um auch ihre Kir­che reich aus­stat­ten konn­ten. So befand sich im Hohen Chor ein Schnitz­al­tar, wahr­schein­lich ein Johan­nes­al­tar, an dem täg­lich die Mes­se gele­sen wur­de. Ein Stein­bo­gen in der Chor­wand unter der heu­ti­gen Orgel­em­po­re kenn­zeich­net noch den Platz, an dem wäh­rend der Mes­se die zele­brie­ren­den Pries­ter saßen. Dane­ben befin­det sich ein sehr ver­blass­tes Wand­ge­mäl­de, das einen Domi­ni­ka­ner­mönch in sei­ner schwarz-wei­ßen Kut­te zeigt, der anbe­tend vor der Madon­na mit dem Kin­de kniet. Die Schrift des Spruch­ban­des in sei­nen Hän­den ist nicht mehr zu ent­zif­fern. Ein Wap­pen­bild, das einen gro­ßen Schwan auf dem Gemäl­de zeigt, lässt ver­mu­ten, dass ein Glied der berühm­ten Kauf­manns- und Bür­ger­meis­ter­fa­mi­lie Schwan aus Mar­burg Stif­ter des Bil­des gewe­sen ist. Nach der Fami­lie Schwan haben die Schwa­n­al­lee und der Schwan­hof in Mar­burg ihre Namen erhalten.

Am Hoch­al­tar wur­den auch die Ster­be­mes­sen für die Mit­glie­der der St.-Jakobs-Bruderschaft gele­sen, die das Got­tes­haus St. Jakob in der Wei­den­häu­ser Stra­ße unterhielt.

Vor einer Mari­en­sta­tue im Chor brann­te ein ewi­ges Licht, und die Schus­te­rin­nung ent­zün­de­te täg­lich Opfer­ker­zen vor der Schnitz­fi­gur ihres Schutz­pa­trons St. Crispin, die eben­falls im Cho­re stand [2]. Nach der Refor­ma­ti­on soll die Figur des Hl. Crispin aus der Kir­che in den Kili­an gewan­dert sein, wo die Schus­ter ihre Zunft­stu­be hat­ten. Bei Auf­lö­sung der Schus­ter­zunft im Jah­re 1809 ist die Figur an einen Mar­bur­ger Schus­ter ver­stei­gert wor­den. Seit­dem ist sie verschwunden.

Im Sei­ten­schiff zur Reit­gas­se hin befand sich der Seve­rin­sal­tar, des­sen Altar­ni­sche heu­te noch in der Wand neben dem Kir­chen­vor­stands­ge­stühl der Uni­ver­si­täts­kir­che (heu­te Platz des Kin­der­got­tes­diens­tes) zu sehen ist. Hier hiel­ten die St.-Severins-Bruderschaft und die Rosen­kranz-Bru­der­schaft ihre Got­tes­diens­te ab und stif­te­ten ihre Kerzen.

Die Bru­der- und Schwes­tern­schaf­ten des Mit­tel­al­ters zur Pfle­ge der Fröm­mig­keit und Über­nah­me sozia­ler und gesel­li­ger Auf­ga­ben sind ent­fernt mit den Gemein­de­krei­sen heu­ti­ger Kir­chen­ge­mein­den ver­gleich­bar, obwohl ihre Orga­ni­sa­ti­ons­form völ­lig anders war. Dass die Schus­ter­zunft und drei Bru­der­schaf­ten ihre Hei­mat in der Domi­ni­ka­ner­kir­che hat­ten, zeigt die leben­di­ge Seel­sor­ge- und Gemein­de­ar­beit der Mönche.

Gro­ßen Zulauf fan­den auch die Pre­dig­ten der Domi­ni­ka­ner, die sonn­tags von 12.00 bis 13.00 Uhr in der Kir­che gehal­ten wur­den, und die Bet-Sing-Mes­sen, die don­ners­tags und sams­tags zur Pfle­ge der Volks­fröm­mig­keit statt­fan­den. Auch lie­ßen die Mar­bur­ger ger­ne ihre See­len- und Gedächt­nis­mes­sen für Ver­stor­be­ne von Pries­tern des Domi­ni­ka­ner­or­dens lesen, was die vie­len Stif­tun­gen und Schen­kun­gen an das Klos­ter bewei­sen. Im Jah­re 1459 muss die Domi­ni­ka­ner­kir­che sogar eine Orgel gehabt haben, denn in einer Schen­kungs­ur­kun­de heißt es:

Johann Ouin­ckus gibt dem Bru­der Hein­ri­cus Men­ge­lo­nis, Pri­or, Lud­wig Bodirk­lois und den übri­gen Her­ren und Brü­dern des Pre­di­ger­or­dens 100 Gul­den zu einem Tes­ta­ment. Dafür sol­len sie jeden Don­ners­tag auf dem hohen Altar ihrer Kir­che eine Sing­mes­se hal­ten „de Cor­po­re Chris­ti“ mit Orgel­spiel und der Sequenz „lau­da Sion“ oder eini­gen Ver­sen dar­aus, „ecce panis ange­lorum“ nach Gele­gen­heit der Zeit. 1459, in die assump­tio­nis vir­gi­nes gloriose.

Nach die­ser Urkun­de soll an jedem Don­ners­tag am Hoch­al­tar der Uni­ver­si­täts­kir­che eine Mes­se nach der Fron­leich­nams­lit­ur­gie gefei­ert wer­den, wobei die Gesän­ge „Lobe Zion, dei­nen Erlö­ser“ und „Sie­he das Engels­brot“ ange­stimmt wer­den sol­len. Die Urkun­de wur­de am Tage Mariä Him­mel­fahrt (15. August) 1459 ausgestellt.

Einen Ein­blick in die Art mit­tel­al­ter­li­cher Got­tes­diens­te gibt uns eine ande­re Stif­tungs­ur­kun­de, in der es heißt:

Der Pfar­rer Her­mann Cont­zen in Schweins­berg hat­te ins Pre­di­ger­klos­ter 100 Gul­den zu einem Tes­ta­ment gege­ben. Der Pri­or Johan­nes And­ree, der Sub­pri­or Lud­wig Bodirk­lois, der Lese­meis­ter Hein­ri­cus Boden­ben­der und die übri­gen Her­ren und Brü­der bezeu­gen, dass sie die­se Sum­me am Schlaf­hau­se und Reben­tur (Spei­se­saal) ver­baut hät­ten. Dafür sol­len sie jeden Sonn­abend in ihrer Kir­che mor­gens nach dem ers­ten Geläu­te auf und vor dem Altar unse­rer lie­ben Frau, der himm­li­schen Köni­gin, eine Sing­mes­se hal­ten und sin­gen die Sequenz „ave pre­cla­ra“ (= Sei gegrüßt du Hold­see­li­ge), und 2 Kna­ben sol­len mit bren­nen­den Ker­zen in ihren Hän­den vor den Altar tre­ten, als man unsern Herr­gott in der Mes­se hebt, (gemeint ist das Erhe­ben der geweih­ten Hos­tie nach der Wand­lung; F.D.) und sin­gen „mise­re­re mise­re­re popu­li tui, quod rede­mis­ti cum san­gui­ne tuo etc.“ (= Erbar­me, erbar­me dich dei­nes Vol­kes, das du durch dein Blut erkauft hast) als das man pflegt zu sin­gen, wenn man die Kreu­ze trägt. Auch soll der Pries­ter, wel­cher die vor­ge­nann­te Mes­se singt, alle­zeit die Coll­ec­te uff­sa­gen „fide­li­um deus omni­um con­di­tor etc.“ (= Herr, du Schöp­fer aller Gläu­bi­gen). 1452, ter­tia feria ante fes­tum Bar­tho­lo­mei apos­to­li (= am Diens­tag vor dem Bar­tho­lo­mäus­tag, den man am 24. August fei­er­te; F.D.).

Durch die aus­ge­dehn­te seel­sor­ger­li­che Tätig­keit der Domi­ni­ka­ner­mön­che fühl­te sich der vom Deut­schen Orden ein­ge­setz­te Stadt­pfar­rer an der Mari­en­pfarr­kir­che öfter in sei­nen Rech­ten und Pflich­ten ein­ge­schränkt. So beschwer­te sich 1453 der Stadt­pfar­rer Johann Ley­be­nit vor Nota­ren und Zeu­gen, dass der Lese­meis­ter des Domi­ni­ka­ner­klos­ters Boden­ben­der in sei­ne Seel­sor­ge ein­ge­grif­fen habe. Ein Jahr spä­ter ver­such­te der Scho­las­ti­kus Rosen­berg aus Mainz im Hau­se des Bür­ger­meis­ters in Gegen­wart zwei­er Schöf­fen, eines Notars, des Stadt­pfar­rers und zwei­er Ver­tre­ter des Klos­ters den Streit zu schlich­ten. Wie die­ses Gespräch ende­te, wis­sen wir nicht, wohl aber, was auf Kos­ten der Stadt ver­zehrt wur­de: Näm­lich 4 Maß Elsäs­ser Wein und 5 Maß Bier. Im Jah­re 1504 muss­te noch ein­mal ein sol­cher Streit geschlich­tet wer­den [3].

Als im Jah­re 1527 die Refor­ma­ti­on in Mar­burg ein­ge­führt wur­de, sahen die Domi­ni­ka­ner kei­ne Seel­sor­ge­mög­lich­keit in Mar­burg mehr. Land­graf Phil­ipp schlug den Mön­chen vor, das Klos­ter auf­zu­ge­ben und in den welt­li­chen Stand zurück­zu­keh­ren, oder sich abfin­den zu las­sen. Zur Ehre des Mar­bur­ger Domi­ni­ka­ner­kon­ven­tes muss man sagen, dass kei­ner der Mön­che die Klos­ter­ge­mein­schaft ver­las­sen hat. Geschlos­sen haben die Mön­che die Stadt Mar­burg mit unbe­kann­tem Ziel ver­las­sen. Die kaum noch leser­li­che und stark zer­stör­te Ver­zichts­ur­kun­de trägt die Unter­schrif­ten von: Johan­nes Ysem­rot, Pri­or, Hein­ri­cus Cali­pi­sieus, Johan­nes Danie­lis, Johan­nes Pis­to­ris, Phil­ip­pus Hen­cke­mann, Eck­har­dus Gieß, Jako­bus Sol­ma­cher, Lude­vicus Suto­ris, Con­radus Pis­to­ris, Ruel Heck­mann, Wolf­gang Bie­den­cap, Johan­nes Fran­ken­berg, und Petrus Nictatoris.

In die leer­ste­hen­den Klos­ter­räu­me, die seit­dem den Namen „Col­le­gi­um Lani“ tra­gen, zog 1527 die neu gegrün­de­te Phil­ipps-Uni­ver­si­tät ein. Das Haus des Pri­o­rs, das par­al­lel zum Lahn­tor stand, beher­berg­te von 1531 bis 1868 das Päd­ago­gi­cum, das spä­te­re Gym­na­si­um Phil­ip­pi­num. Auch die Klos­ter­kir­che wur­de zwar zunächst der Uni­ver­si­tät zuge­wie­sen, die­se nutz­te sie jedoch nur für Begräb­nis­fei­ern der Pro­fes­so­ren. Das Inven­tar wur­de zuguns­ten eines „gemei­nen Got­tes­kas­tens“, wel­cher der Mar­bur­ger Armen­pfle­ge dien­te, ver­kauft (auch die mit­tel­al­ter­li­che Orgel wird in die­ser Zeit ver­lo­ren gegan­gen sein), die geist­li­chen Bru­der­schaf­ten wur­den aufgelöst.

Als im Janu­ar 1552 ein Hoch­was­ser der Lahn die bei­den mitt­le­ren Brü­cken­bo­gen der Wei­den­häu­ser Brü­cke ein­riss, wobei 24 Men­schen den Tod fan­den, beab­sich­tig­te die Stadt, die nutz­lo­se Domi­ni­ka­ner­kir­che abzu­bre­chen und aus ihren Stei­nen die Brü­cken­bo­gen zu erneu­ern. Dazu kam es zum Glück nicht. Aber nahe­zu ein Jahr­hun­dert, von 1579 bis zu ihrer Wie­der­her­stel­lung, dien­te die rie­si­ge Kir­che als Korn­spei­cher, wes­halb der ehe­ma­li­ge Begräb­nis­platz der Domi­ni­ka­ner noch heu­te den Namen „Korn­markt“ trägt. Fens­ter an der Nord­sei­te und ver­mau­er­te Fens­ter über dem West­por­tal, ehe­ma­li­ge Lüf­tungs­lu­ken für die vier ein­ge­zo­ge­nen Spei­cher­bö­den, erin­nern noch an die­se Zeit.

1658 durch Landgraf Wilhelm VI für den evangelischen Gottesdienst wieder hergestellt

Erst 1653, als nach dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg auf Betrei­ben des 1. Kura­tors der Uni­ver­si­tät von Dau­ber, der aus einer Wei­den­häu­ser Fami­lie stamm­te, die Phil­ipps-Uni­ver­si­tät wie­der ihre Pfor­ten öff­ne­te, ließ Land­graf Wil­helm VI. die Kir­che wie­der her­rich­ten. Aus jener Zeit stam­men die baro­cke Kan­zel, der Altar­tisch, des­sen Stein­plat­te auf vier geschnitz­ten Eichen­fü­ßen ruht, und das Holz­ge­wän­de des heu­ti­gen Tauf­brun­nens, das ursprüng­lich als Lese­pult dien­te. Auch eine neue Orgel ist damals wahr­schein­lich errich­tet wor­den, denn die Kir­chen­ge­mein­de der Uni­ver­si­täts­kir­che hat Jahr­hun­der­te lang stets einen Kan­tor und einen Orga­nis­ten bezahlt.

Die Kir­che wur­de der seit 1607 bestehen­den klei­nen nie­der­hes­sisch-refor­mier­ten Gemein­de über­ge­ben. Im Juli oder August 1658 konn­te der ers­te Got­tes­dienst in ihr gehal­ten werden.

Da sich die Gemein­de ursprüng­lich vor allem aus Ange­hö­ri­gen des Hofes und der Gar­ni­son zusam­men­setz­te, wur­de die Uni­ver­si­täts­kir­che bis zur Auf­lö­sung der Mar­bur­ger Gar­ni­son mit dem zwei­ten Welt­krieg auch als Gar­ni­sons­kir­che gebraucht.

Der Gemein­de schlos­sen sich aber auch eini­ge Mar­bur­ger Bürg­erfa­mi­li­en an, wovon beson­ders die bemer­kens­wer­te Geschich­te der Fami­lie Unkel zeugt (vgl. Rit­ter, Drei­hun­dert Jah­re), die seit den sech­zi­ger Jah­ren des sieb­zehn­ten Jahr­hun­derts bis heu­te zur Gemein­de gehört und dar­über hin­aus zahl­rei­che Kir­chen­äl­tes­te in ihren Rei­hen zählt (nach­ge­wie­sen seit 1790; der bis­her letz­te, der Opti­ker Fried­rich Unkel, schied erst vor weni­gen Jah­ren aus die­sem Amt). Lan­ge Zeit lau­te­te der voll­stän­di­ge Name der Uni­ver­si­täts­kir­che denn auch „Universitäts‑, Gar­ni­sons- und evan­ge­lisch-refor­mier­te Stadtkirche“.

Blick in das Gewölbe (nach dem Umbau von 1927)

Kas­set­ten­de­cke über dem Kir­chen­schiff (seit dem Umbau 1927) (Foto Marburg)

Als got­tes­dienst­li­cher Ver­samm­lungs­raum der nie­der­hes­sisch-refor­mier­ten Gemein­de wur­de die Uni­ver­si­täts­kir­che zu einer Dia­spo­ra-Kir­che inner­halb des ober­hes­si­schen Luther­tums. Phil­ipp der Groß­mü­ti­ge hat­te die Refor­ma­ti­on in sei­nem Land als „mil­des Luther­tum“ ein­ge­führt und sich mit dem Mar­bur­ger Reli­gi­ons­ge­spräch von 1529 um eine Aus­söh­nung zwi­schen Luthe­ra­nern und Refor­mier­ten bemüht. Um die Wen­de vom 16. zum 17. Jahr­hun­dert führ­te dage­gen Land­graf Moritz der Gelehr­te mit sei­nen „Ver­bes­se­rungs­punk­ten“ unter Bei­be­hal­tung des luthe­ri­schen Bekennt­nis­ses (der Augs­bur­gi­schen Kon­fes­si­on und der Apo­lo­gie Melan­chthons) eine „ver­deck­te“ zwei­te Refor­ma­ti­on durch, die einer­seits die Bünd­nis­fä­hig­keit mit den refor­mier­ten Staa­ten im Wes­ten sichern soll­te, ihm ande­rer­seits aber auch als not­wen­di­ge Bedin­gung für kul­tu­rel­len Fort­schritt, ja als die­ser Fort­schritt selbst galt. Die Ver­bes­se­rungs­punk­te sahen u.a. die Ver­wen­dung von nor­ma­lem Brot beim Abend­mahl (da Chris­ti Gegen­wart als nur geist­lich und nicht real gelehrt wur­de) und ein kla­res Bil­der­ver­bot vor. Zer­stör­te Reli­efs und lee­re Nischen an der West­sei­te der Uni­ver­si­täts­kir­che erin­nern an die Bil­der­ver­nich­tung im Zuge der „Reform“. Die ent­schie­de­ne Ver­wei­ge­rung der „mau­ritia­ni­schen Ver­bes­se­rung“ in Ober­hes­sen hat­te jedoch zur Fol­ge, dass neben der Uni­ver­si­tät nur die Hof- und Gar­ni­sons­ge­mein­de in Mar­burg „refor­miert“ wer­den konn­te, eben jene Gemein­de, die spä­ter ihren Got­tes­dienstraum in der Uni­ver­si­täts­kir­che fand [4].

Da durch Land­graf Moritz die Uni­ver­si­tät ihren ursprüng­lich luthe­ri­schen Cha­rak­ter ver­lo­ren hat­te, konn­te die ehe­ma­li­ge Klos­ter­kir­che auch zur Kir­che der Uni­ver­si­tät wer­den. Bis heu­te erfüllt sie die Dop­pel­funk­ti­on, Kir­che ihrer Orts­ge­mein­de und Kir­che der Uni­ver­si­täts­ge­mein­de zu sein [5].

Für die aus ver­schie­de­nen Kör­per­schaf­ten und Stän­den zusam­men­ge­setz­te Gemein­de wur­de vom Fürs­ten eine fes­te Sitz­ord­nung bestimmt. So erhiel­ten der Land­graf und die Ange­hö­ri­gen des Hofs, die Rats­her­ren, Pro­fes­so­ren, das Hof­ge­richt, das pein­li­che Gericht, die Regie­rung und die Beam­ten­schaft, Offi­zie­re, Bür­ger, Schü­ler des Päd­ago­gi­cums, Stu­den­ten und die Insas­sen der Deutsch-Ordens-Kom­men­de jeweils eige­ne Plät­ze. 1706 wur­de eine Vor­schrift erlas­sen, in wel­cher Rei­hen­fol­ge die ein­zel­nen Kir­chen­stän­de das Abend­mahl emp­fan­gen soll­ten: zuerst die Rats­her­ren unten im Chor, dann die Pro­fes­so­ren unten und oben, dann der Hof und die Regie­rung, dann die Büh­ne der Gerichts­be­hör­den, schließ­lich die Stu­den­ten, Beam­ten, hohen Offi­zie­re usw.

Wie der Innen­raum zur Zeit des Barock genau aus­ge­se­hen hat, ist unbe­kannt, aber die Anord­nung des Gestühls für den refor­mier­ten Pre­digt­got­tes­dienst zei­gen Foto­gra­fien aus der Zeit vor dem Umbau von 1904: Der Altar stand unter der Kan­zel, Bän­ke und geschlos­se­ne Bal­ko­ne umrah­men sie im Chor, Kir­chen­schiff und an der Nord­sei­te der Kirche.

Ihre Ver­bun­den­heit mit der Gemein­de drück­ten beson­ders die adli­gen Gemein­de­glie­der durch Schen­kun­gen von Altar­ge­rä­ten aus. Eine noch heu­te im Gebrauch befind­li­che Abend­mahls­kan­ne von 1663 stif­te­te die Toch­ter eines Regie­rungs­rats, Anna Adel­heid Vul­te­jus, dem Andenken ihres ver­stor­be­nen Ehe­manns, der eben­falls Regie­rungs­rat gewe­sen war. Ihr Fami­li­en­wap­pen, ein Hun­de­kopf mit Hals­band und Ring, ist in die Kan­ne eingraviert.

Die Gemein­de ent­wi­ckel­te sehr bald auch kari­ta­ti­ve und päd­ago­gi­sche Akti­vi­tä­ten. Von 1690 bis 1824 unter­hielt sie ein Wai­sen­haus und von 1653–1824 eine Schu­le, die seit 1671 in der ehe­ma­li­gen Kili­ans­kir­che unter­ge­bracht war. 1824 wur­den Schu­le und Wai­sen­haus mit den jewei­li­gen luthe­ri­schen Ein­rich­tun­gen vereint.

Bis ins spä­te 19. Jahr­hun­dert ist die Geschich­te der refor­mier­ten Gemein­de stark durch den kon­fes­sio­nel­len Gegen­satz zum vor­herr­schen­den Luther­tum geprägt. 1896 bemerk­te der dama­li­ge Super­in­ten­dent und lang­jäh­ri­ge Pfar­rer der Uni­ver­si­täts­kir­che, W. Wolff, dass die Geschich­te der refor­mier­ten Gemein­de ohne den Kon­fes­si­ons­streit nicht zu ver­ste­hen sei, mein­te aber: „gera­de dadurch, dass in der Ent­ste­hung und Ent­wick­lung die­ser Gemein­de sol­che all­ge­mei­ne­ren Gegen­sät­ze sich abspie­geln, hat die Geschich­te der­sel­ben nicht bloß ein loka­les Inter­es­se für Mar­burg, son­dern auch ein all­ge­mei­ne­res für die hes­si­sche Kir­che“ (S.4). Wolff erin­nert in sei­ner Geschich­te der refor­mier­ten Gemein­de unter ande­rem dar­an, dass es erst 1780 durch den Ein­fluss Jung-Stil­lings mög­lich wur­de, „dass ein refor­mier­ter Mann mit sei­ner luthe­ri­schen Frau und ein luthe­ri­scher Mann mit sei­ner refor­mier­ten Frau abwech­selnd in der einen und ande­ren Kir­che zum hei­li­gen Abend­mahl gehen durf­te“ (S.7). Und Wolff selbst war Ende der sieb­zi­ger, Anfang der acht­zi­ger Jah­re des 19. Jahr­hun­derts in einen kir­chen­recht­li­chen Streit invol­viert, der aus den kon­fes­sio­nel­len Span­nun­gen her­rühr­te: Es ging um das seit 1876 ver­wehr­te Recht refor­mier­ter Paa­re, sich auch in der Eli­sa­beth­kir­che trau­en zu las­sen. Wolff ver­tei­dig­te es in einer kir­chen­recht­li­chen Stu­die [6].

1841 wur­de eine umfas­sen­de Reno­vie­rung des Innen­rau­mes der Uni­ver­si­täts­kir­che in Angriff genom­men, in deren Zuge 1846 eine neue Orgel des Esch­we­ger Orgel­bau­meis­ters Fried­rich Krebaum (gest. 1845) zur Auf­stel­lung kam, die aller­dings schon 1894 durch einen Neu­bau mit neu­go­ti­schem Pro­spekt von der Fir­ma Förs­ter in Lich ersetzt wurde.

Im Jah­re I904 wur­de die­se Orgel im Zuge einer neu­en, groß ange­leg­ten Innen­re­no­vie­rung der Uni­ver­si­täts­kir­che wesent­lich erwei­tert und in den hohen Chor auf eine gro­ße, neu­erbau­te Sän­ger­em­po­re gesetzt. Bei die­ser Reno­vie­rung wur­de auch das seit Jahr­hun­der­ten ver­mau­er­te drei­tei­li­ge West­fens­ter der Kir­che wie­der frei­ge­legt und restauriert.

Am äuße­ren Erschei­nungs­bild der Kir­che hat sich im Lau­fe der Jahr­hun­der­te nicht all­zu viel geän­dert. Der Dach­rei­ter stammt aus dem 18. Jahr­hun­dert, in den acht­zi­ger Jah­ren des 19. Jahr­hun­derts wur­de vor das Nord­por­tal ein neu­go­ti­scher Wind­fang gesetzt, der aber mit der Reno­vie­rung von 1927 wie­der ent­fernt wurde.

Hoher Chor vor dem Umbau 1927 (Foto Marburg)

Hoher Chor vor dem Umbau 1927 (Foto Marburg)

Erneuert 1927

1926 ent­schloss sich der Preu­ßi­sche Staat, zur bevor­ste­hen­den Vier­hun­dert­jahr­fei­er der Phil­ipps-Uni­ver­si­tät den Innen­raum der Uni­ver­si­täts­kir­che von sei­ner neu­go­ti­schen Krus­te zu befrei­en und völ­lig neu zu gestal­ten. Vie­le Reno­vie­rungs­plä­ne wur­den auf­ge­stellt und wie­der ver­wor­fen. Schließ­lich setz­te sich K.B. Rit­ter, der Anfang 1925 aus Ber­lin kom­mend die ers­te Pfarr­stel­le des dama­li­gen Kir­chen­rats Chr. Eisen­berg über­nom­men hat­te, mit einer Denk­schrift durch, die zum Pro­gramm der (sei­ner­zeit sehr umstrit­te­nen) Neu­ge­stal­tung des Kir­chen­raums wur­de. In die­ser Denk­schrift schrieb Ritter:

Jeder Stil ist Aus­druck der Gesamt­hal­tung einer Epo­che dem Meta­phy­si­schen gegen­über. Daher kann die Aus­drucks­spra­che einer abge­lau­fe­nen Epo­che stets nur deko­ra­ti­ve Wir­kun­gen erzie­len, aber nie der gegen­wär­ti­gen Hal­tung ent­spre­chen. Gera­de die pro­tes­tan­ti­sche Fröm­mig­keit for­dert strengs­te Wahr­haf­tig­keit und Gegen­wär­tig­keit. Der pro­tes­tan­ti­sche Kul­tus der Gegen­wart kann und darf sich nicht in das Gewand einer ver­gan­ge­nen Epo­che hüllen. (…)

Der pro­tes­tan­ti­sche Got­tes­dienst ist immer, mag er nun Pre­digt­got­tes­dienst oder Sakra­men­t­al­got­tes­dienst sein, ein Aus­druck dafür, dass die Gemein­de vor Gott steht. Das bedeu­tet die Über­win­dung des Indi­vi­dua­lis­mus im Zusam­men­schluss der Gemein­de der aus der Zer­streu­ung die­ser Welt her­aus­ge­ru­fe­nen und zusam­men­ge­ru­fe­nen Schar. Die­ser Zusam­men­schluss erfolgt durch die Aus­rich­tung auf ein gemein­sa­mes Ziel, durch Ein­fü­gung des Ein­zel­nen in eine Gemein­schaft des Gehor­sams. Es ist die demü­ti­ge eccle­sia cru­cis (= Kir­che des Kreu­zes), nicht die eccle­sia tri­um­phans (= die tri­um­phie­ren­de Kir­che), also die in ihrer eige­nen Lebens­be­we­gung immer wie­der gebro­che­ne und umge­wand­te Gemein­de, die unter dem Kreu­ze steht. (…)

[Der Kir­chen­raum] hat die Auf­ga­be, der leib­haf­tig ver­sam­mel­ten Gemein­de dazu mit zu ver­hel­fen, dass sie aus einer blo­ßen Ver­samm­lung zur Höhe gemein­de­haf­ten Daseins empor­ge­ho­ben wird. (…) In den Kir­chen­raum gehört nur das, was Aus­druck der vor Gott ste­hen­den Gemein­de zu wer­den ver­mag“ (K.B. Rit­ter, Denkschrift).

Die Umset­zung der in Rit­ters Denk­schrift vor­ge­schla­ge­nen archi­tek­to­ni­schen Ideen ist dem preu­ßi­schen Minis­te­ri­al­rat Fritz Kei­bel zu ver­dan­ken, der in einem aus­führ­li­chen Reno­vie­rungs­be­richt Aus­kunft über archi­tek­to­ni­sche und tech­ni­sche Details des Umbaus gege­ben hat (F. Kei­bel, Die Wie­der­her­stel­lung), in dem er u.a. festhielt:

Bei der Erneue­rung des Kir­chen­in­nern ist ver­sucht wor­den, die größ­ten Män­gel in der Aus­ge­stal­tung des Innen­rau­mes zu besei­ti­gen. Dane­ben gal­ten die Bemü­hun­gen einer güns­ti­ge­ren Anord­nung des Gestühls und der Empo­ren bei gleich­zei­ti­ger Bei­be­hal­tung der Platz­zahl und unter Kon­zen­trie­rung des Blicks der Gemein­de auf Altar und Kreuz. (…) Um das Chor bes­ser zur Gel­tung kom­men zu las­sen, wur­de die mit­tel­al­ter­li­che (fla­che; H.K.) Not­de­cke über dem Schif­fe aus­ge­schnit­ten und in den alten Dach­stuhl eine Ton­ne ein­ge­fügt, die durch einen neu­en Tri­umph­bo­gen gegen das Chor hin abge­schlos­sen ist. (…) Es wäre (…) zu erwä­gen gewe­sen, ob man die Ton­ne nicht bes­ser (…) über der gan­zen Schiff­brei­te ent­wi­ckelt hät­te. In die­sem Fal­le hät­te natür­lich der Tri­umph­bo­gen nicht kon­zen­trisch zur Ton­ne des Schif­fes aus­ge­bil­det wer­den kön­nen, dafür wären aber die ver­schie­den brei­ten Rest­flä­chen der fla­chen Decke ent­lang der Nord- und Süd­wand ver­mie­den wor­den. Ver­fas­ser hat die­se Här­te zu mil­dern ver­sucht durch räum­li­che Unter­tei­lung der Rest­flä­chen und durch einen star­ken plas­ti­schen Fries. (…) Zur Ver­mei­dung von Här­ten zwi­schen Tri­umph­bo­gen und Decken­flä­che wur­de als Abschluss der Decke gegen den Tri­umph­bo­gen ein geschnitz­ter Maß­werk­schlei­er vor den Tri­umph­bo­gen gesetzt.

Bei der far­bi­gen Behand­lung der Ton­ne und der anschlie­ßen­den Tei­le wur­de eine tep­pich­ar­ti­ge Wir­kung zu errei­chen ver­sucht, wie sie sich in man­chen Kir­chen Ober­ita­li­ens aus roma­ni­scher Zeit, z.B. in San Zeno in Vero­na, vor­fin­det, in unse­rem Fal­le mit wein­ro­tem Grun­de und Höhung durch Weiß, Gelb und Grau. (…)

Bei der Gestal­tung der Empo­ren des Sei­ten­schif­fes wur­de ver­sucht, die Pfei­ler, die bei der frü­he­ren Gestal­tung der Tri­bü­ne voll­kom­men über­schnit­ten wur­den, frei in ihrer gan­zen Höhe durch­lau­fen zu las­sen. Es erga­ben sich so die weit aus­kra­gen­den Bal­ko­ne, da die Gemein­de gera­de auf die­se sehr guten Plät­ze nicht ver­zich­ten woll­te. (…) Bei der Gestal­tung der Brüs­tun­gen wur­de die For­men­spra­che und Farb­ge­bung der Decke wie­der aufgenommen. (…)

Die klei­nen Bron­ze­kro­nen im Innern, die in zwei Rei­hen von der gewölb­ten Decke an roten Sei­den­schnü­ren her­ab­hän­gen, sind mög­lichst tief ange­bracht, damit sie ein gutes Lese­licht erge­ben, ohne den obe­ren Teil des Schif­fes zu sehr zu erhel­len (…) Die Logen unter den drei Tri­bü­nen haben unmit­tel­ba­re Beleuch­tung in den Kas­set­ten der Decken erhalten (…)

Durch die neu ein­ge­füg­te Ton­ne wur­de der Blick in den Chor­raum frei. Es galt daher, den Altar­raum wür­dig nach Osten abzu­schlie­ßen, ein erhöh­tes Podi­um für einen grö­ße­ren Sän­ger- und Orches­ter­chor zu schaf­fen, die Orgel an die Ost­wand des Cho­res her­an­zu­rü­cken und den Pro­spekt so aus­zu­bil­den, dass er sich dem hoch auf­ra­gen­den Rau­me ein­füg­te (…) So ent­stand die Abschluss­wand hin­ter dem Altar­raum, die, mög­lichst nied­rig gehal­ten, nach oben durch eine geschnitz­te, durch­bro­che­ne und ver­gol­de­te lett­ner­ar­ti­ge Schran­ke bekrönt wird, mit Dar­stel­lun­gen aus dem Leben und Lei­den Chris­ti. An Stel­le der Kreu­zi­gung, die in der Rei­he der Bil­der fehlt, ist auf beson­de­ren Wunsch des Pfar­rers Rit­ter das gro­ße Kreuz hin­ter dem Tische des Herrn errichtet.

So erfüllt die Gestal­tung das Pro­gramm der archi­tek­tur­theo­lo­gi­schen Denk­schrift Rit­ters: Das im Zen­trum des Blicks zwi­schen Schiff und Chor auf­ra­gen­de Kreuz macht sinn­fäl­lig, wie sich die Gemein­de in der gemein­sa­men Hin­wen­dung zum Kreuz zusam­men­schließt. Die seit­li­che Anord­nung der Kan­zel stellt dem Pre­di­ger die Auf­ga­be, auf das Kreuz hin­zu­wei­sen und die Bli­cke von sich fort zu wen­den. Im Schiff sind alle For­men ver­mie­den, die von der Blick­wen­dung zum Chor ablen­ken könn­ten. Aus dem glei­chen Grund weist der Altar­raum die stärks­te Farb­ge­bung auf. Der Chor ist die hells­te Licht­quel­le, wäh­rend das Schiff in gedämpf­tem, fast dunk­lem Licht liegt: die Gemein­de schaut aus dem Dun­kel zum Licht. End­punkt des Blick­fangs ist oben, dort wo das Gewöl­be im Sechs­eck aus­ein­an­der geht, der Chris­tus­kopf. Er stammt noch aus der Zeit der Errich­tung der Kir­che, wes­halb lan­ge ange­nom­men wur­de, es müs­se sich um Johan­nes den Täu­fer han­deln. Heu­te ist man aber eher davon über­zeugt, dass es Chris­tus ist, der Eck­stein, auf den die Kir­che gegrün­det ist, in dem allein sie gehal­ten wird. Der sie­ben­ar­mi­ge Leuch­ter und das Chris­tus-Mono­gramm über der Nord- und der Süd­tür zu den Sakris­tei­räu­men ver­wei­sen auf die bibli­schen Heils­we­ge des Juden­tums und des Chris­ten­tums, auf den Alten und den Neu­en Bund.

Licht­ver­stär­kend im Chor wir­ken die Pfei­fen des expres­sio­nis­ti­schen Orgel­pro­spek­tes, das die Förs­ter­sche Orgel ersetz­te. Sei­ne Form soll die Flü­gel einer Har­fe dar­stel­len, der Har­fe, die den Psal­ter Davids beglei­te­te. Bei der Erneue­rung der Orgel durch die Fir­ma Wal­ker wur­de das alte Orgel­werk zunächst ein­ge­ar­bei­tet. Erst in den fünf­zi­ger Jah­ren wur­de das Pfei­fen­ma­te­ri­al der neu­go­ti­schen Orgel durch neu­es ersetzt. Die alten Wind­la­den ver­schwan­den erst Mit­te der sech­zi­ger Jah­re, nach­dem sie in dem kal­ten Win­ter 1963/1964 geris­sen und völ­lig unbrauch­bar gewor­den waren.

In Zusam­men­hang mit der Reno­vie­rung wur­de die Kir­che mit einer Rei­he von geist­li­chen Kunst­wer­ken im moder­nen Stil der zwan­zi­ger Jah­re aus­ge­stat­tet. Der erwähn­te Lett­ner stammt von dem Bild­hau­er Wil­helm Lem­cke. Er wur­de 1928 ein­ge­zo­gen. Eben­falls von Lem­cke stam­men die Figur des Peli­kans [7] auf der Brüs­tung der Süd­em­po­re, die vier Del­fi­ne auf der Mes­sing­scha­le des Tauf­be­ckens (sie spei­en wäh­rend der Tauf­hand­lung Was­ser), die Evan­ge­lis­ten­sym­bo­le an den Säu­len der Nord­sei­te sowie die Figur St. Georgs über dem Westportal.

Altar­kreuz von Otto Coes­ter (Foto Marburg)

Die bron­ze­nen Altar­leuch­ter, deren Sockel ein stark expres­sio­nis­ti­sches Engel-Reli­ef schmückt, schuf Otto Coes­ter. Von ihm stammt auch das ers­te, eben­falls stark expres­sio­nis­ti­sche höl­zer­ne Altar­kreuz, das Chris­tus als ver­greis­tes Klein­kind zeigt. Coes­ter stell­te damit eine Ver­bin­dung zwi­schen dem Gesche­hen am Kreuz und der anti­ken Sage vom Gott Chro­nos her: Als Romu­lus bei der Grün­dung der Stadt Rom den Umkreis mit einem Pflug abmaß, leg­te er ein klei­nes Kind aus der Erde frei, das anfing zu spre­chen und in unge­heu­rer Geschwin­dig­keit die bis­he­ri­ge und kom­men­de Welt­ge­schich­te erzähl­te, wobei es ver­greis­te und schließ­lich starb. Die­ses Kind war der Gott Chro­nos: die Zeit. Dass Zeit und Ewig­keit in den Hän­den Chris­ti liegt, soll­te durch die­ses Altar­kreuz zum Aus­druck gebracht wer­den. Damit war die Gemein­de jedoch über­for­dert. Sie lehn­te das Altar­kreuz ab, das schließ­lich sei­nen Ort in der Sakris­tei fand und durch das hel­le Altar­kreuz des Gold­schmieds Pro­fes­sor Rickert ersetzt wur­de. Die­ses nimmt das Leit­mo­tiv des Lett­ners auf und zeigt Chris­tus inmit­ten von Wein­ran­ken. Vier Evan­ge­lis­ten­sym­bo­le kor­re­spon­die­ren den Sym­bo­len an den Säu­len der Nord­sei­te des Kirchenschiffs.

Ein bedeu­ten­des Werk aus den zwan­zi­ger Jah­ren befin­det sich in der so genann­ten Kreuz­ka­pel­le, die hoch über dem Kreuz­gang der Alten Uni­ver­si­tät zwi­schen der Uni­ver­si­täts­au­la und dem Chor der Kir­che gele­gen ist: der Wand­tep­pich von Eli­sa­beth Coes­ter hin­ter dem Altar. Er zeigt den erhöh­ten Herrn, der sein Leben im Sakra­ment aus­teilt und zu dem die Gebe­te der Gemein­de durch Engel empor getra­gen werden.

Der Raum der Kapel­le war durch den Neu­bau der Uni­ver­si­tät ent­stan­den, als nach dem Abriss der Klos­ter­mau­ern ein klei­ner Zwi­schen­raum, die alte Win­ter­kir­che, übrig geblie­ben war. Über die­sem ergab sich ein neu­er Raum, der zunächst als Sakris­tei für die refor­mier­te Kir­chen­ge­mein­de dien­te. Als die Sakris­tei 1927 in den hohen Chor ver­legt wur­de, rich­te­te man hier einen neu­en Andachts­raum ein: die Kreuzkapelle.

In der Kapel­le, erin­nert eine Bron­ze­ta­fel an ein wich­ti­ges Datum in der Geschich­te der Uni­ver­si­täts­kir­che nach ihrer Neu­ge­stal­tung: Am 1. Okto­ber 1931, zeit­lich nahe am Micha­els­tag (29. Sep­tem­ber), stif­te­ten hier 22 Män­ner aus der lit­ur­gi­schen Ber­neu­ch­ner Bewe­gung, dar­un­ter K.B. Rit­ter, E. Schwe­bel und W. Stäh­lin, die Evan­ge­li­sche Micha­els­bru­der­schaft. Die Fra­ge, wie das Ursprüng­li­che des Chris­ten­tums der kri­ti­schen Jugend ihrer Zeit wie­der erleb­bar gemacht wer­den konn­te, hat­te die Stif­ter der Bru­der­schaft das Hei­li­ge Abend­mahl als Zen­trum des evan­ge­li­schen Got­tes­diens­tes wie­der ent­de­cken las­sen. Und jene, die Pfar­rer Rit­ter in die Kreuz­ka­pel­le beglei­te­ten, hat­ten sich bei den Ver­su­chen einer lit­ur­gi­schen Neu­ori­en­tie­rung als eine Gemein­schaft erlebt, die in Gebet, Got­tes­dienst­fei­er und gegen­sei­ti­ger Seel­sor­ge jenes Chris­ten­tum ein­übt, das man nach­her in Ver­ein­ze­lung bewäh­ren muss. Die inner­halb der Bru­der­schaft gefei­er­te Evan­ge­li­sche Mes­se nimmt, maß­geb­lich durch K.B. Rit­ter geprägt, katho­li­sche sowie alt- und ost­kirch­li­che Vor­la­gen auf, erfährt aber bis heu­te den Erfor­der­nis­sen der Gegen­wart ange­pass­te Neu­ent­wick­lun­gen. An der Uni­ver­si­täts­kir­che wird ihre Tra­di­ti­on auch heu­te fort­ge­führt, so dass sich ihr got­tes­dienst­li­ches Leben durch eine beson­de­re Viel­falt aus­zeich­net: Lan­des­kirch­li­cher Got­tes­dienst, Evan­ge­li­sche Mes­se, Uni­ver­si­täts­got­tes­dienst, öku­me­ni­sche und musi­ka­li­sche Abend­mes­sen und ande­re Got­tes­dienst­for­men wer­den in ihr gefei­ert [8].

Kan­zel­be­hang (Foto Marburg)

1933 begann auch für die Uni­ver­si­täts­kir­che eine schwe­re Zeit. Wäh­rend K.B. Rit­ter als Vor­sit­zen­der des Bun­des­ra­tes der Beken­nen­den Kir­che Kur­hes­sens mehr­mals ver­haf­tet und schließ­lich nur durch den Mut des dama­li­gen Direk­tors der Mar­bur­ger Uni­ver­si­täts­ner­ven­kli­nik, Prof. Kret­schmer, der ihn als ver­hand­lungs- und ver­neh­mungs­un­fä­hig in sei­ner Kli­nik fest­hielt, vor dem KZ geret­tet wer­den konn­te, war sein Kol­le­ge, Pfar­rer Veer­hoff, Anhän­ger der Deut­schen Christen.

Ver­tre­ten wur­de Pfar­rer Rit­ter wäh­rend der Mili­tär­zeit und des „Kran­ken­haus-Exils“ unter ande­rem von einer Frau, Clau­dia Bader. Als Frau konn­te sie zu die­ser Zeit noch nicht Pfar­re­rin sein, son­dern durf­te sich nur „Vika­rin“ nen­nen. Anfang der fünf­zi­ger Jah­re wur­de sie dann aber – gegen Vor­be­hal­te Rit­ters, jedoch mit deut­li­cher Unter­stüt­zung Fried­rich Hei­lers (der ande­ren gro­ßen Gestalt der lit­ur­gi­schen Bewe­gung in Mar­burg) – als ers­te Pfar­re­rin der Kur­hes­si­schen Lan­des­kir­che ordi­niert [9].

Das Jahr 1933 brach­te auch Ver­än­de­run­gen für den Uni­ver­si­täts­got­tes­dienst mit sich. 1932 war Fried­rich Nie­bergall, der das Amt lan­ge Zeit geprägt hat­te, ver­stor­ben, und Ende 1933 wur­de der Uni­ver­si­täts­pre­di­ger Karl Born­häu­ser eme­ri­tiert. 1934 wur­de dann ein Ange­hö­ri­ger der Deut­schen Chris­ten als neu­er Prak­ti­scher Theo­lo­ge beru­fen. Eine Ernen­nung zum Uni­ver­si­täts­pre­di­ger konn­te aber ver­mie­den wer­den (zu einer Neu­be­set­zung des Amtes kam es erst 1957 mit Alfred Nie­bergall). Bereits 1933 hat­ten Rudolf Bult­mann und Hans Frei­herr von Soden (er lei­te­te die Beken­nen­de Kir­che in Kur­hes­sen-Wal­deck) das bis heu­te übli­che Ver­fah­ren ein­ge­führt, nach dem grund­sätz­lich alle Mit­glie­der der Theo­lo­gi­schen Fakul­tät Uni­ver­si­täts­got­tes­diens­te hal­ten. Auch Bult­mann hielt, obwohl er selbst ein Geg­ner der Ver­bin­dung von Uni­ver­si­täts- und Gemein­de­got­tes­dienst war und den aka­de­mi­schen Got­tes­dienst in den Hör­saal ver­legt wis­sen woll­te, in die­ser Zeit zahl­rei­che Got­tes­diens­te in der Uni­ver­si­täts­kir­che, von denen die spä­ter ver­öf­fent­lich­ten Mar­bur­ger Pre­dig­ten zeu­gen. Fol­gen­des Zitat aus der Pre­digt zum 1. Advent 1939 kenn­zeich­net wohl die gan­ze Zeit unter der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Herrschaft:

Jesus stellt die Ent­schei­dungs­fra­ge. Das Licht, das er schenkt, ist über­welt­li­ches Licht; die Freu­de, die er spen­det, ist über­welt­li­che Freu­de. Die­ses Licht, die­se Freu­de wirk­lich wol­len, ihm nach­fol­gen also, das heißt: exis­tie­ren, als ob man gar nicht zu die­ser Welt gehö­re! Wol­len wir das wirk­lich? (…) Wol­len wir wirk­lich das himm­li­sche Licht für unser irdi­sches Dun­kel? Wol­len wir ein­ge­ste­hen, dass unse­re Welt, dass wir selbst in der Fins­ter­nis sind? Lasst uns den Ruf zur Ent­schei­dung recht ver­ste­hen, lasst uns dem Ruf zur Nach­fol­ge gehor­chen! Wer weiß, wie lan­ge er das Wort noch hören darf? [10]

An den Krieg erin­nert das Chris­to­pho­rus- Fres­ko an der Nord­sei­te des Altar­raums, das den Hei­li­gen in abge­ris­se­ner feld­grau­er Uni­form zeigt, wie er das Chris­tus­kind durch einen Sumpf trägt. Gemalt wur­de das Fres­ko 1947 von Pro­fes­sor Frank aus Mar­burg nach Ent­wür­fen sei­nes in der Kriegs­ge­fan­gen­schaft umge­kom­me­nen Freun­des Fran­zis Bantzer.

Ende der sieb­zi­ger, Anfang der acht­zi­ger Jah­re wur­de ein per­ga­men­ten­es Buch mit den Namen aller Mar­bur­ger Gefal­le­nen ange­fer­tigt. Nach dem Dieb­stahl des Buches in den neun­zi­ger Jah­ren liegt heu­te die Kopie einer Abschrift unter dem von Arnold Rickert (von ihm stammt auch das Adler­pult) gestal­te­ten Gedenkkreuz.

1954 wur­de eigens für die Uni­ver­si­täts­kir­che ein zwei­flüg­li­ger Weih­nachts­al­tar von Hel­muth Uhrig gestal­tet, der zwi­schen Kan­zel und Süd­em­po­re sei­nen Platz hat. Der Altar zeigt zwi­schen Maria und Josef das Kind in der Krip­pe. Die Hir­ten und Köni­ge ste­hen unter dem Kind und schau­en zu ihm empor. Die fünf Figu­ren­grup­pen aus mas­si­ven Holz­blö­cken sind so ange­ord­net, dass der zwi­schen ihnen frei­ge­las­se­ne Raum den Umriss des Gekreu­zig­ten erken­nen lässt. In der Advents- und in der Fas­ten­zeit sind die Flü­gel des Altars geschlos­sen. Zwi­schen Weih­nach­ten und dem Ende der Epi­pha­ni­as­zeit steht er auf dem Altartisch.

Die bis­her letz­te bau­li­che Ver­än­de­rung in der Uni­ver­si­täts­kir­che geschah 1995 mit der Reno­vie­rung und Neu­ge­stal­tung der Kreuz­ka­pel­le zu einem hel­len, lich­ten Raum. Die Reno­vie­rung wur­de not­wen­dig, damit der Raum sei­nem heu­te wich­tigs­ten Zweck die­nen kann: Kir­che des Kin­der­got­tes­diens­tes („Kin­der­kir­che“) zu sein.

2000 und später

1999 wur­den durch das Bild­ar­chiv Foto Mar­burg neue Auf­nah­men vom Innen­raum der Uni­ver­si­täts­kir­che ange­fer­tigt, die auch teil­wei­se Ein­gang in die Fest­schrift „Kir­che auf dem Fel­sen“ anläss­lich der 700-Jahr­fei­er der Uni­ver­si­täts­kir­che gefun­den haben. Ein von der obers­ten West­em­po­re auf­ge­nom­me­nes Bild der Orgel zeigt über dem lin­ken Quer­bal­ken des Hoch­kreu­zes die gro­ße Auf­schrift auf ihrem Pro­spekt: ein Wort, von dem zu hof­fen ist, dass es sich einst als Leit­wort der ver­gan­ge­nen und noch aus­ste­hen­den Geschich­te des Gebäu­des, sei­ner Men­schen und Got­tes­diens­te erwie­sen haben wird:

SOLI DEO GLORIA! GOTT ALLEIN DIE EHRE!

Fried­rich Dickmann/Holger Kuße

Anmerkungen

  1. Der Bei­trag ist von H. Kuße aus ver­schie­de­nen Arti­keln und Kir­chen­be­schrei­bun­gen z.T. zusam­men­ge­stellt, z.T. auf deren Grund­la­ge neu geschrie­ben wor­den (s. Quel­len). Der ers­te Teil (zur Geschich­te des Domi­ni­ka­ner­klos­ters) stimmt weit­ge­hend mit F. Dick­mann, Ein Eck­pfei­ler der Stadt, über­ein. Der gan­ze Text wur­de von Pfar­rer Dick­mann kri­tisch durch­ge­se­hen; zuerst erschie­nen in: Kir­che auf dem Fel­sen.
  2. Crispi­nus und Crispi­nia­nus, die mit­tel­al­ter­li­chen Schutz­pa­tro­ne der Schus­ter, waren Brü­der aus einer vor­neh­men römi­schen Fami­lie. Vor der Chris­ten­ver­fol­gung des Kai­sers Dio­kle­ti­an flo­hen sie nach Sois­sons in Frank­reich, wo sie das Schus­ter­hand­werk betrie­ben. Sie erlit­ten 287 den Mär­ty­rer­tod. Von ihnen wird erzählt, sie hät­ten Leder gestoh­len, um für die Armen Schuh­werk her­stel­len zu kön­nen, wes­halb man Wohl­ta­ten auf Kos­ten ande­rer Crispi­na­ten nennt. Die Legen­de beruht aber wohl auf einem Miss­ver­ständ­nis des Spru­ches: „Crispi­nus mach­te den Armen Schuh und stalt (= stell­te) das Leder dazu“ (vgl. RGG 3, Bd. 1, Sp. 1882). Der Gedenk­tag der bei­den Hei­li­gen ist der 25. Oktober.
  3. Vgl. auch B. zur Nie­den, Zur Geschich­te des Domi­ni­ka­ner­klos­ters in Mar­burg; in: Kir­che auf dem Fel­sen.
  4. Zur mau­ritia­ni­schen Reform vgl. auch G. Menk, Land­graf Moritz und die Rol­le Mar­burgs bei der Ein­füh­rung der „Ver­bes­se­rungs­punk­te“, in: Kir­che zwi­schen Schloß und Markt. Die luthe­ri­sche Pfarr­kir­che St. Mari­en zu Mar­burg, hrsg. von H.J. Kunst und E. Glock­zin. Mar­burg 1997, S.48–57 [und die dort ange­ge­be­ne Lite­ra­tur]; vgl. auch D.H. Eibach, Offen für die erneu­ern­de Kraft des Evan­ge­li­ums; in: Kir­che auf dem Fel­sen.
  5. Vgl. Auch J. Ren­ner, Die Got­tes­diens­te in der Uni­ver­si­täts­kir­che; in : Kir­che auf dem Fel­sen.
  6. W. Wolff, Das gute Recht der refor­mier­ten Gemein­de zu Mar­burg an den Mit­ge­brauch der Eli­sa­beth-Kir­che. Eine geschicht­li­che und kir­chen­recht­li­che Stu­die. Mar­burg 1880. Zur Beson­der­heit der refor­mier­ten Gemein­de vgl. auch D.H. Eibach, Offen für die erneu­ern­de Kraft des Evan­ge­li­ums; in: Kir­che auf dem Fel­sen.
  7. Der Peli­kan pols­tert sei­ne Nes­ter mit eige­nen Brust­fe­dern aus. In der Anti­ke hat­te man des­halb die Vor­stel­lung, er wür­de sich in Not­zei­ten die Brust auf­rei­ßen und mit sei­nem Blut sei­ne Jun­gen füt­tern. Des­halb galt der Peli­kan als Sinn­bild des Opfers Chris­ti zur Erlö­sung der Mensch­heit und als Sinn­bild des Hei­li­gen Abend­mahls (vgl. Wör­ter­buch der Sym­bo­lik, hrsg. von M. Lur­ker, Stutt­gart 1991 (5. Auf­la­ge), S.560.
  8. Vgl. J. Ren­ner, Die Got­tes­diens­te in der Uni­ver­si­täts­kir­che; in: Kir­che auf dem Fel­sen.
  9. Vgl. H. Har­tog, Evan­ge­li­sche Katho­li­zi­tät. Weg und Visi­on Fried­rich Hei­lers, Mainz 1995, S.200f.
  10. Rudolf Bult­mann, Mar­bur­ger Pre­dig­ten, Tübin­gen 1968 (2. Auf­la­ge), S.102 & 106; von Sodens aka­de­mi­sche Pre­dig­ten („Wahr­heit in Chris­tus. Zwölf Pre­dig­ten“) wur­den übri­gens 1947 von H. von Cam­pen­hau­sen aus dem Nach­lass herausgegeben.

Quellen

  • F. Dick­mann, Kir­chen­be­schrei­bung: Die evan­ge­li­sche Uni­ver­si­täts­kir­che zu Marburg
  • Ders., Ein Eck­pfei­ler der Stadt schon im Mit­tel­al­ter: das Domi­ni­ka­ner­klos­ter, in: Stu­dier mal Mar­burg. April/Mai 1981, S. 93–94
  • Ders., Es begann in Mar­burgs Kreuz­ka­pel­le. 50 Jah­re Evan­ge­li­sche Micha­els­bru­der­schaft, in: Ober­hes­si­sche Pres­se. 30.09.1981
  • Ders., Die Orgeln der Uni­ver­si­täts­kir­che zu Mar­burg vor 1927, in: Kir­che in Mar­burg, Sep­tem­ber 1986, S. 3–4
  • Ders., Vom Domi­ni­ka­ner­klos­ter zum Kol­le­gi­um Lani. Ein Dop­pel­ju­bi­lä­um im Som­mer 1991, in: Kir­che in Mar­burg, Okto­ber 1991, S. 8–9
  • F. Dickmann/H. Schmitt, Kir­che und Schu­le im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Mar­burg, Mar­burg 1985
  • K. Ham­mann, Rudolf Bult­mann und der Uni­ver­si­täts­got­tes­dienst in Mar­burg, in: Zeit­schrift für Theo­lo­gie und Kir­che, Jg. 1993, Heft 1, S. 87–116
  • F. Kei­bel, Die Wie­der­her­stel­lung der Uni­ver­si­täts­kir­che zu Mar­burg an der Lahn anläss­lich der Vier­hun­dert­jahr­fei­er der Uni­ver­si­tät, in: Die Denk­mal­pfle­ge. Zeit­schrift für Denk­mal­pfle­ge und Hei­mat­schutz, Jg. 1930, S. 17–30
  • H.A. Lip­pert, Kir­chen­be­schrei­bung: Die evan­ge­li­sche Uni­ver­si­täts­kir­che zu Mar­burg, 1998 (= Kir­chen­rund­gang)
  • K.B. Rit­ter: Kir­chen­be­schrei­bung: Die evan­ge­li­sche Uni­ver­si­täts­kir­che zu Mar­burg, 1958
  • Ders., Drei­hun­dert Jah­re Uni­ver­si­täts­kir­che im Spie­gel der Geschich­te einer alten Mar­bur­ger Fami­lie, in: Gemein­de­bo­te der evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­den Marburg/L., Jg. 1958, Nr. 12, S. 8–9
  • Ders., Aus einem Pfarr­erle­ben, in: Gemein­de­bo­te der evan­ge­li­schen Kir­chen­ge­mein­den Marburg/L., Jg. 1960, Nr. 24, S. 4–9
  • Ders., Denk­schrift zum Umbau der refor­mier­ten Stadt- und Uni­ver­si­täts­kir­che in Mar­burg, in: Kir­che in Mar­burg, Janu­ar 1977, S. 4–5 [Orig.: 1926]
  • W. Wolff: Die evan­ge­lisch-refor­mier­te Gemein­de in Mar­burg. Ein Rück­blick auf ihre Ent­ste­hung und Ent­wick­lung seit 250 Jah­ren, Kas­sel 1896

 

350 Jahre evangelischer Gottesdienst in der Universitätskirche (1658–2008)

Als im Som­mer 1658 Hie­ro­ny­mus Wet­zel, refor­mier­ter Pre­di­ger zu Mar­burg, in der „Ahm Päd­ago­gio Uffs new repa­rir­ten Refor­mier­ten Kirch“ die ers­te evan­ge­li­sche Pre­digt hielt, lagen hin­ter der Stadt Mar­burg und ihrer Uni­ver­si­tät schwe­re Zeiten.

Ange­fan­gen hat­te alles damit, dass Land­graf Phil­ipp der Groß­mü­ti­ge das Hes­sen­land unter sei­ne Söh­ne auf­ge­teilt hat­te. Sein zweit­äl­tes­ter Sohn Lud­wig erhielt Ober­hes­sen mit Gie­ßen und Mar­burg. In sei­ner Resi­denz Mar­burg ent­fal­te­te er ein rei­ches höfi­sches Leben, das letz­te in der Geschich­te der Stadt. 1604 starb er kin­der­los und teil­te Ober­hes­sen zwi­schen sei­nen Nef­fen Moritz in Kas­sel, der den Mar­bur­ger Teil erhielt und Georg in Darm­stadt auf, dem der Gie­ße­ner Teil zufiel. Schon zu sei­nen Leb­zei­ten hat­te der altern­de Land­graf sei­nem Kas­se­ler Nef­fen miss­traut, der zum Cal­vi­nis­mus neig­te und bereits eine ent­spre­chen­de Kir­chen­re­form in Nord­hes­sen durch­ge­führt hat­te. So ver­füg­te Lud­wig IV. in sei­nem Tes­ta­ment, dass der­je­ni­ge sei­nes Erb­tei­les ver­lus­tig gehen soll­te, der das her­ge­brach­te Luther­tum in Ober­hes­sen antastete.

Moritz von Hes­sen-Kas­sel küm­mer­te das nicht. Kaum hat­te er das Mar­bur­ger Ober­hes­sen ein­ge­nom­men, führ­te er mit gro­ßer Här­te sei­ne Kir­chen­re­form durch. Reni­ten­te Beam­te, Geist­li­che und Pro­fes­so­ren der Uni­ver­si­tät wur­den amts­ent­ho­ben und des Lan­des ver­wie­sen. Sie fan­den Zuflucht bei Land­graf Lud­wig V. in Darm­stadt, der mit ihnen 1608 in Gie­ßen eine luthe­ri­sche Gegen­uni­ver­si­tät gegen Mar­burg grün­de­te. Zudem ver­klag­te er sei­nen Vet­ter beim Kai­ser auf Bruch der Tes­ta­ments­be­stim­mun­gen und for­der­te das Mar­bur­ger Ober­hes­sen für Darm­stadt ein. Er bekam Recht, sodass im Zuge des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges Mar­schall Til­ly mit kai­ser­li­chen und süd­hes­si­schen Trup­pen 1624 Mar­burg besetz­te. Das Luther­tum und die ein­heit­li­che luthe­ri­sche Lan­des­uni­ver­si­tät wur­den wie­der her­ge­stellt. Erst in den aller­letz­ten Jah­ren des Krie­ges gelang es Hes­sen-Kas­sel, wie­der in den Besitz von Mar­burg zu kom­men, und salo­mo­nisch leg­te der West­fä­li­sche Frie­de fest, dass zwar das Mar­bur­ger Ober­hes­sen luthe­risch blei­ben müs­se, aber zurück nach Hes­sen-Kas­sel kom­me. Unter die­sen Bedin­gun­gen war das Darm­städ­ter Fürs­ten­haus nicht bereit, sei­nen Anteil an der hes­si­schen Lan­des­uni­ver­si­tät in Mar­burg zu belas­sen und ver­leg­te sei­ne Lan­des­uni­ver­si­tät nun end­gül­tig nach Gie­ßen. Das Mar­bur­ger Uni­ver­si­täts­er­be trat die nie­der­hes­sisch-refor­mier­te Kas­se­ler Aka­de­mie an, als sie 1653 nach Mar­burg ver­legt wur­de. Der eigen­ar­ti­ge Fall trat ein, dass sich eine refor­mier­te Uni­ver­si­tät in einer luthe­ri­schen Stadt befand.

Seit der 1646 erfolg­ten krie­ge­ri­schen Wie­der­be­set­zung Mar­burgs durch Hes­sen-Kas­sel ent­stand dort eine klei­ne, aber stän­dig wach­sen­de refor­mier­te Gemein­de aus Beam­ten, Mili­tär und Juris­ten, die von einem Feld­pre­di­ger Bar­tho­lo­mä­us Tho­mas bis 1653 betreut wur­de. Sei­ne refor­mier­ten Got­tes­diens­te fan­den zunächst in der Schloss­ka­pel­le statt, spä­ter in der etwas grö­ße­ren Kugel­kir­che, die zur Sti­pen­dia­ten­an­stalt gehör­te. Doch als die nun­mehr refor­mier­te Phil­ipps-Uni­ver­si­tät wie­der eröff­net wür­de, reich­te auch sie nicht mehr aus.

Land­graf Wil­helm VI. von Hes­sen-Kas­sel, der von 1650 bis 1663 regier­te, nahm sich in beson­de­rer Wei­se der anwach­sen­den Gemein­de an. Er bestell­te Hie­ro­ny­mus Wet­zel als Seel­sor­ger und Pre­di­ger für die Gemein­de und bestimm­te, dass ein Pro­fes­sor der Theo­lo­gie Uni­ver­si­täts­pre­di­ger und zwei­ter Pfar­rer der Gemein­de sein soll­te. Dies wur­de Sebas­ti­an Curtz, der bis 1684 wirk­te. Wet­zel betreu­te die Gemein­de von 1653 bis 1668. Sein beson­de­res Wohl­wol­len für die Gemein­de bekun­de­te der Land­graf durch Geschen­ke sil­ber­ner Abend­mahls- und Tauf­ge­rä­te, die bis heu­te noch in der Uni­ver­si­täts­kir­che in Gebrauch sind.

Abend­mahls­kan­ne von 1663 (Bild­ar­chiv Foto Marburg)

Die wich­tigs­te Gabe Wil­helms VI. an die Gemein­de aber war, dass er die völ­lig ver­wahr­los­te und zum Korn­spei­cher umfunk­tio­nier­te Domi­ni­ka­ner­kir­che am Lahn­tor zum evan­ge­li­schen Got­tes­dienst her­rich­ten ließ. Der Fürst über­wach­te selbst den Ein­bau der Empo­ren und die Ver­tei­lung des Gestühls. Jeder Stand der Gemein­de soll­te sei­nen eige­nen Sitz haben, der Hof, die Pro­fes­so­ren, die Stu­den­ten, die Zög­lin­ge des Päd­ago­gi­ums, die Bür­ger­schaft, die Juris­ten des hes­si­schen Samt­ge­richts­ho­fes auf dem Schloss, die Gar­ni­son und die refor­mier­ten Insas­sen der Deutsch-Ordens-Kom­men­de. Es soll­te durch die­se Sitz­ord­nung deut­lich wer­den, dass alle die­se ver­schie­de­nen Stän­de durch das eine refor­mier­te Bekennt­nis fest mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Meh­re­re Jah­re hat die Wie­der­her­stel­lung der Kir­che gedau­ert, bis sie 1658 durch die land­gräf­li­che Regie­rung in Mar­burg der Uni­ver­si­tät und Gemein­de über­ge­ben wur­de. Wie damals das Inne­re der Kir­che aus­ge­se­hen hat, weiß man nicht mehr. An die Aus­stat­tung Wil­helms VI. erin­nern heu­te nur noch die mas­si­ve Stein­plat­te auf Eichen­fü­ßen des Abend­mahls­ti­sches, die präch­ti­ge Kan­zel und das Gewän­de des Tauf­brun­nens. Es soll auch eine Orgel gege­ben haben, erbaut von dem Schmal­kal­di­schen Orgel­bau­er Kas­par Lehmann.

Streng gere­gelt war die Rei­hen­fol­ge des Abend­mahl­s­emp­fangs der ein­zel­nen Stän­de, wie aus einer Ver­ord­nung des Jah­res 1706 her­vor­geht. Zuerst die Rats­herrn, die unter dem Chor saßen, dann die Pro­fes­so­ren auf der Empo­re dar­über, dann der Hof und die Regie­rung auf der West­em­po­re, dann die Büh­ne der Gerichts­be­hör­den, schließ­lich die Stu­den­ten, Beam­ten, Offi­zie­re und Sol­da­ten der Gar­ni­son, die Bür­ger und Zög­lin­ge des Päd­ago­gi­ums im Mit­tel­schiff und an den Sei­ten. Grün­don­ners­tags und zusätz­lich vier­mal im Jahr fan­den die Abend­mahls­fei­ern statt. Das Pres­by­te­ri­um der Gemein­de, dem stets zwei Depu­tier­te der Uni­ver­si­tät ange­hör­ten, hat­te über das sitt­li­che und got­tes­dienst­li­che Leben der Gemein­de und der Uni­ver­si­täts­an­ge­hö­ri­gen zu wachen und das Gemein­de­ver­mö­gen zu ver­wal­ten. Dar­über hat es oft viel Streit gege­ben, denn weder die Uni­ver­si­tät noch das Mili­tär woll­ten sich einer kirch­li­chen Über­wa­chung unterordnen.

Kir­chen­sta­tis­ti­ken von damals gibt es nicht, doch war 1653 die Gemein­de offen­sicht­lich so gewach­sen, dass eine refor­mier­te Schu­le und 1690 ein refor­mier­tes Wai­sen­haus ein­ge­rich­tet wer­den muss­ten. Die Schu­le hat bis 1824 bestan­den und befand sich zeit­wei­lig im Kugel­haus, im Wai­sen­haus am Lahn­tor (heu­te Land­gra­fen­haus) und seit 1671 im Kili­an. Zwei Leh­rer waren an der Schu­le beschäf­tigt, die zugleich den Kan­to­ren- und Küs­ter­dienst ver­sa­hen. Eine wich­ti­ge Rol­le im Gemein­de­le­ben spiel­te die Sti­pen­dia­ten­an­stalt, die im Kugel­haus, der soge­nann­ten Props­tei, unter­ge­bracht war. Sti­pen­dia­ten betei­lig­ten sich stets musi­ka­lisch am Got­tes­dienst der Uni­ver­si­täts­kir­che. Die Sti­pen­di­ats­ma­jo­ren, spä­ter Repe­ten­ten genannt, muss­ten regel­mä­ßig ein­mal wöchent­lich in der Kugel­kir­che für die Sti­pen­dia­ten pre­di­gen und an den zwei­ten Fei­er­ta­gen in der Universitätskirche.

Auch über­nah­men sie Unter­richt im Päd­ago­gi­um. Es wür­de zu weit füh­ren, der lan­gen Geschich­te des evan­ge­li­schen Got­tes­diens­tes an der Uni­ver­si­täts­kir­che im ein­zel­nen nach­zu­ge­hen, vie­les müss­te auch lücken­haft blei­ben. Eine refor­mier­te Kir­che ist eine Kir­che, die sich stän­dig an den Ansprü­chen der hei­li­gen Schrift über­prüft und dabei zu neu­en Lebens­for­men gelangt. Dies ist in der Uni­ver­si­täts­kir­chen­ge­mein­de im rei­chen Maße gesche­hen, zumal da sie als Dia­spo­ra in einer luthe­ri­schen Stadt Jahr­hun­der­te lang zu Tole­ranz und Viel­falt ver­pflich­tet war. Heu­te ist die Uni­ver­si­täts­kir­che als Stät­te der Öku­me­ne und des got­tes­dienst­li­chen Reich­tums nicht aus dem Mosa­ik der Kir­che in Mar­burg weg­zu­den­ken und dafür soll­te man dank­bar sein.

Fried­rich Dickmann

 

Der russische Aufklärer Michail Vasilevič Lomonosov und die Universitätskirche

An der Alten Uni­ver­si­tät, nur ein paar Schrit­te von der Uni­ver­si­täts­kir­che ent­fernt, erin­nert eine Gedenk­ta­fel an den Mar­bur­ger Stu­di­en­auf­ent­halt des rus­si­schen Auf­klä­rers und Uni­ver­sal­ge­lehr­ten Michail Vasi­le­vič Lomo­no­sov (1711–1765). Auf der Tafel sind Ver­se aus einer Ode an die Zarin Eli­sa­beth (1741–1762) zu lesen:

Βезде исследуйте всечасно,
Что есть велико и прекрасно,
Чего еще не видел свет.

Über­all erfor­schet ohne Unterlass,
Was herr­lich ist und wunderschön,
Was die Welt noch nicht geseh’n.

(Ode vom 27. August 1750, in: Wer­ke, Bd. 8, Moskau/Leningrad 1959)

Aufgang Alte Universität

Auf­gang Alte Uni­ver­si­tät an der Untergasse
Am Auf­gang ist die Gedenk­ta­fel für M.V. Lomo­no­sov zu sehen

Wenig bekannt ist, dass Lomo­no­sov, der zusam­men mit zwei wei­te­ren rus­si­schen Stu­den­ten zwi­schen 1736 und 1741 in Mar­burg stu­dier­te, auch zur Uni­ver­si­täts­kir­che eine enge Ver­bin­dung hat­te. Denn hier hat er am 6. Juni 1740 die Mar­bur­ger Bür­ge­rin Eli­sa­beth Chris­tia­ne Zilch gehei­ra­tet. Ihre ers­te Toch­ter, Catha­ri­na Eli­sa­beth, war am 19. Novem­ber 1739 in der Uni­ver­si­täts­kir­che getauft wor­den und am 1. Janu­ar 1742 wur­de hier auch der Sohn Johan­nes getauft, der aber schon einen Monat spä­ter starb.

Immatrikulation

Ein­tra­gung im Imma­tri­ku­la­ti­ons­ver­zeich­nis der Mar­bur­ger Uni­ver­si­tät vom 17. Novem­ber 1736

Lomo­no­sov hat wäh­rend sei­nes Stu­di­en­auf­ent­halts bei der Fami­lie Zilch gewohnt, die zur nie­der­hes­sisch refor­mier­ten Kir­che und damit zur Gemein­de der Uni­ver­si­täts­kir­che gehör­te. Der Vater Eli­sa­beths, Hein­rich Zilch (gest. zwi­schen 1732 und 1739), stamm­te aus Solz bei Bebra, war dort Guts­ver­wal­ter gewe­sen und wur­de in Mar­burg Bier­brau­er. Er gehör­te dem Stadt­rat an und war Kir­chen­äl­tes­ter der refor­mier­ten Gemeinde.

Heirat Michail Lomonosovs und Elisabeth Zilchs

Ein­trag im Kir­chen­buch der refor­mier­ten Gemein­de über die Hei­rat Michail Lomo­no­sovs und Eli­sa­beth Zilchs am 6. Juni 1740

Taufe und Begräbnis des Sohnes

Ein­tra­gun­gen im Kir­chen­buch der refor­mier­ten Gemein­de zur Tau­fe und zum Begräb­nis des Soh­nes Johan­nes (1. Janu­ar und 7. Febru­ar 1742)

Wo Lomo­no­sov tat­säch­lich gewohnt hat, ist nicht ganz sicher: Wahr­schein­lich befand sich das Haus an der Ecke Barfüßerstraße/Heumarkt

Haus Ecke Barfueßerstrasse/Heumarkt

Barfüßerstraße/Heumarkt

Mög­lich ist aber auch das gro­ße Fach­werk­haus in der Wen­del­gas­se, an dem heu­te eine klei­ne Tafel an ihn erinnert.

Haus Wendelgasse

Wen­del­gas­se

Der Weg nach Marburg

Lomo­no­sov wuchs im Gou­ver­ne­ment Archangel’sk auf der Insel Kur­ostrov als Sohn eines Fischers auf. Dort kam er in Kon­takt mit der Gemein­schaft der „Alt­gläu­bi­gen“ (auch: „Alt­ri­tua­lis­ten“), die sich in der Mit­te des 17. Jahr­hun­derts gegen lit­ur­gi­sche und ortho­gra­phi­sche Refor­men in der Rus­sisch-Ortho­do­xen Kir­che gewandt hat­ten und des­halb andau­ern­den Ver­fol­gun­gen aus­ge­setzt waren. In einer weit­ge­hend analpha­be­ti­schen Umge­bung dürf­te das Schrift­tum die­ser Kir­che zu den Grund­la­gen von Lomo­no­sovs Bil­dung gehört haben. Ihre Ver­fol­gung sei­tens des Staa­tes und der offi­zi­el­len Kir­che und ihre beein­dru­cken­de Fröm­mig­keit haben wahr­schein­lich sei­ne spä­te­re Tren­nung von Welt und Glau­be, Wis­sen­schaft und Reli­gi­on beein­flusst. Er konn­te aber der Welt­ver­nei­nung und Skep­sis der Alt­gläu­bi­gen gegen­über jeder Art von Erneue­rung und Moder­ni­sie­rung nicht fol­gen. Wäh­rend sie die West­öff­nung Russ­lands unter Peter I. (1685–1762) ablehn­ten, hat Lomo­no­sov den „Reform­za­ren“ zeit sei­nes Lebens tief ver­ehrt. Er war ein „Mensch aus Peters Nest“, wie der rus­si­sche Kul­turo­lo­ge Jurij Lot­man die von den Petri­ni­schen Refor­men gepräg­te rus­si­sche Eli­te des 18. Jahr­hun­derts genannt hat.

Peter I.

Peter I. (1672–1725)

1730 schloss sich Lomo­no­sov einem Han­dels­zug nach Mos­kau an, wo er 1731 in die 1685 gegrün­de­te „Sla­visch-grie­chisch-latei­ni­sche Aka­de­mie“ auf­ge­nom­men wur­de. 1734 wech­sel­te er an die Aka­de­mie in Kiev und erhielt 1735 die Mög­lich­keit zum Stu­di­um an der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten in Sankt Peters­burg, von wo er wie­der­um ein Jahr spä­ter, 1736, mit den Kom­mi­li­to­nen Gus­tav Ulrich Rai­ser und Dmit­rij Vino­gra­dov zum Stu­di­um nach Deutsch­land gesandt wur­de. Das eigent­li­che Ziel der rus­si­schen Stu­den­ten war die Berg­aka­de­mie im säch­si­schen Frei­berg, denn die Aka­de­mie such­te vor allem Metall­ur­gen und Berg­leu­te für Expe­di­tio­nen nach Sibi­ri­en. Zu einer Art Pro­pä­deu­ti­kum gin­gen sie jedoch zuerst nach Mar­burg an der Lahn, wo der damals welt­be­rühm­te Chris­ti­an Wolff (1679–1754) die Betreu­ung der Gast­stu­den­ten zuge­sagt hat­te. 1739 reis­ten sie nach Frei­berg ab. Für Lomo­no­sov wur­de es jedoch ein nur kur­zer Auf­ent­halt von Juli 1739 bis Mai 1740. Aus Unzu­frie­den­heit mit sei­nem Leh­rer, dem Berg­rat J.F. Hen­ckel, mit dem er sich schnell über­warf, kehr­te er eigen­mäch­tig nach Mar­burg zurück. Unter­wegs geriet er in die Fän­ge preu­ßi­scher Sol­da­ten­wer­ber, denen er nur knapp ent­kam. 1741 ver­ließ Lomo­no­sov Mar­burg. In Russ­land hat­te er sei­ne Ehe mit Eli­sa­beth Zilch zunächst ver­schwie­gen, und es dau­er­te zwei Jah­re bis sie 1743 zusam­men mit der ers­ten Toch­ter und ihrem Bru­der auch nach Peters­burg über­sie­deln konn­te. 1749 wur­de die zwei­te Toch­ter, Ele­na, geboren.

Der Universalgelehrte

Lomo­no­sov stu­dier­te in Mar­burg unter ande­rem Che­mie bei J.G. Dui­sing und Phi­lo­so­phie bei Chris­ti­an Wolff, der ihn in sei­nem Den­ken nach­hal­tig beein­fluss­te. Wolff ver­trat die radi­kal auf­klä­re­ri­sche Posi­ti­on, in einem ver­nünf­ti­gen klar ratio­na­len Dis­kurs alles erklä­ren zu kön­nen. Die „Welt-Weis­heit“ (Phi­lo­so­phie) defi­nier­te er als „Wis­sen­schaft aller mög­li­chen Din­ge, wie und war­um sie mög­lich sind“. Und von die­sem Anspruch zeu­gen auch die Titel sei­ner wich­tigs­ten Wer­ke: „Ver­nünf­ti­ge Gedan­ken von den Kräf­ten des mensch­li­chen Ver­stan­des und ihrem rich­ti­gen Gebrau­che in Erkennt­nis der Wahr­heit“ (1713); „Ver­nünf­ti­ge Gedan­ken von Gott, der Welt und der See­le des Men­schen“ (1720); „Ver­nünf­ti­ge Gedan­ken von dem gesell­schaft­li­chen Leben der Men­schen“ (1721)

Christian Wolff

Chris­ti­an Wolff (1679–1754)

Haus Marktgasse

Haus von Chris­ti­an Wolff an der Marktgasse

Lomo­no­sov folg­te Wolff in sei­nem radi­ka­len Erklä­rungs­an­spruch. Aber er war auch Natur­wis­sen­schaft­ler, und zahl­rei­che phi­lo­so­phi­sche Bemer­kun­gen fin­den sich cha­rak­te­ris­ti­scher Wei­se nicht in eigen­stän­di­gen phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten, son­dern im Rah­men natur­wis­sen­schaft­li­cher Abhand­lun­gen: zur Pla­ne­ten­be­ob­ach­tung, zur Metall­ur­gie, zur Che­mie und vor allem zur Phy­sik. Lomo­no­sov woll­te sich in die­sen For­schun­gen wis­sen­schafts­theo­re­ti­scher Grund­la­gen ver­ge­wis­sern. Dazu reich­te ihm das Denk­sys­tem Wolffs bald nicht mehr aus. Anders als die­ser ver­trat er einen ato­mis­ti­sches Welt­bild. Schon in Mar­burg ent­wi­ckel­te er in Ansät­zen sei­ne „Kor­pus­ku­lar­theo­rie“: Alle Mate­rie sei aus kleins­ten unteil­ba­ren Tei­len zusam­men­ge­setzt, den Kor­pus­keln. Wer­den die­se Ur-Teil­chen gefun­den, so lie­ße sich die gan­ze mate­ri­el­le Welt erschöp­fend erklä­ren. Lomo­no­sov bean­spruch­te aber nicht, damit auch die Welt des Geis­tes und der Reli­gi­on erfas­sen zu kön­nen. Er war ein Uni­ver­sal­ge­lehr­ter, der für alles zwar die glei­chen Prin­zi­pi­en des Den­kens annahm, aber den ver­schie­de­nen Wis­sens­be­rei­chen unter­schied­li­che Erkennt­nis­auf­ga­ben und gesell­schaft­li­che Funk­tio­nen zuwies. Denn in allem, was er tat, frag­te Lomo­no­sov nach dem gesell­schaft­li­chen Nut­zen, den es brin­gen soll­te. Das ent­sprach ganz dem Geist der Refor­men unter Peter I. Die­ser hat­te gefor­dert: „Adlig ist, wer nütz­lich ist“. Lomo­no­sov sag­te in einer „Lob­re­de auf den Nut­zen der Che­mie“ (1751):

Wenn ich über das Wohl­erge­hen des mensch­li­chen Lebens nach­den­ke, mei­ne Zuhö­rer, so fin­de ich nichts Voll­kom­me­ne­res, als durch ange­neh­me und unta­de­li­ge Arbei­ten Nut­zen zu bringen.

(Wer­ke, Bd. 2, Moskau/Leningrad 1952)

Die Natur­wis­sen­schaf­ten soll­ten zur wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung Russ­lands bei­tra­gen. Lomo­no­sov war betei­ligt am auf­kom­men­den Hüt­ten­we­sen. Er grün­de­te Mosa­ik­fa­bri­ken (deren Direk­tor sein Schwa­ger wur­de) und war maß­geb­lich an der Grün­dung der Mos­kau­er Uni­ver­si­tät betei­ligt, die in der Sowjet­uni­on nach ihm benannt wur­de und bis heu­te sei­nen Namen trägt.

Nicht weni­ger wur­de Lomo­no­sov jedoch auch als Dich­ter (unter ande­rem von Oden auf das Herr­scher­haus), als Ver­fas­ser einer Geschich­te Russ­lands und ganz beson­ders der ers­ten Rus­si­schen Gram­ma­tik (1755) bekannt. Mit einem gewis­sen Humor stell­te er in deren Vor­re­de das Rus­si­sche den west­eu­ro­päi­schen Spra­chen nicht nur gleich, son­dern stell­te es an Aus­drucks­stär­ke und ‑viel­falt über alle ande­ren Sprachen.

Karl V., Kai­ser des römi­schen Rei­ches deut­scher Nati­on, sag­te, es sei gut, mit Gott spa­nisch, fran­zö­sisch mit Freun­den, deutsch mit Fein­den und ita­lie­nisch mit Frau­en zu reden. Hät­te er aber Rus­sisch gekonnt, wäre er mit die­ser Spra­che aus­ge­kom­men, denn es ver­fügt über die Grö­ße des Spa­ni­schen, die Leben­dig­keit des Fran­zö­si­schen, die Fes­tig­keit des Deut­schen und die Zärt­lich­keit des Ita­lie­ni­schen, und außer­dem noch über den Reich­tum des Grie­chi­schen und Lateinischen.

(Wer­ke, Bd. 7, Moskau/Leningrad 1952)

Russische Grammatik

Titel­blatt der Rus­si­schen Gram­ma­tik von 1755.

Das Fron­ti­spiz (links) zeigt den auf­klä­re­ri­schen Anspruch: Son­nen­licht (das Licht der Auf­klä­rung) erhellt die Alle­go­rie der Gram­ma­tik und das auf­ge­schla­ge­ne Gram­ma­tik­buch. In der Son­ne ist das Mono­gramm Eli­sa­beth I. zu sehen, deren
Züge auch die Alle­go­rie der Gram­ma­tik trägt.

Deutsche Übersetzung der Grammatik

Titel­blatt der deut­schen Über­set­zung von Lomo­no­sovs Gram­ma­tik (1764)

Religion und Kirche

Für Lomo­no­sov war die freie Dis­kus­si­ons­ge­mein­schaft, in der wis­sen­schaft­li­che Resul­ta­te immer nur unter dem Vor­be­halt ihrer mög­li­chen Wider­le­gung Gel­tung haben durf­ten, für die For­schung unabdingbar.

Des­halb ver­tei­dig­te er die Auto­no­mie der Wis­sen­schaf­ten gegen­über dem reli­giö­sen Glau­ben und der Auto­ri­tät der bibli­schen Schrif­ten, ohne deren Wahr­heit zu ver­nei­nen. Lomo­no­sov trenn­te reli­giö­ses und wis­sen­schaft­li­ches Den­ken von­ein­an­der. Für ihn gab es zwei „Bücher“, die unter­schied­lich zu lesen sei­en und die unter­schied­li­che Auf­ga­ben hät­ten: Das „Buch der Bibel“ und das „Buch der Natur“. Das „Buch der Natur“ offen­ba­re die Grö­ße Got­tes, die Bibel hin­ge­gen sei­nen Wil­len. In die­ser Auf­ga­ben­tei­lung wur­den die Natur und ihre Erfor­schung für Lomo­no­sov sogar zum Evan­ge­li­um: Wer in das Inne­re der Schöp­fung ein­drin­ge und deren Tei­le in ihren Ord­nun­gen und wech­sel­sei­ti­gen Ver­bin­dun­gen erken­ne, der erhe­be sich nicht nur auf leich­ten Flü­geln ent­zückt zum Him­mel, son­dern erle­be „Ver­gött­li­chung“ (in der „Pro­gramm­schrift“ von 1746, in: Wer­ke, Bd. 1, Moskau/Leningrad 1950).

Bei sei­nem Mar­bur­ger Auf­ent­halt muss Lomo­no­sov von den dor­ti­gen Pfar­rern sehr beein­druckt gewe­sen sein. Sie erfüll­ten wohl sei­nen Anspruch an das geist­li­che Amt, den Wil­len Got­tes zu ver­kün­den und zum Nut­zen aller bei­spiel­haft vor zu leben. Jeden­falls ver­fass­te er um 1761 eine Denk­schrift „Über die Pflich­ten der Geist­lich­keit“, in der er den „evan­ge­li­schen Pfar­rer“ zum Vor­bild erklärte:

Die Pas­to­ren leh­ren in ihren kirch­li­chen Grund­schu­len den Kin­dern, die das ABC ler­nen, Got­tes Gebo­te mit aller gebüh­ren­den Stren­ge und Eifer. Und bei der Kon­fir­ma­ti­on vor dem ers­ten Abend­mahl prü­fen sie sie zuerst in der Schu­le und dann in der Kir­che über die christ­li­che Leh­re. Und wenn einer sich nicht genü­gend aus­kennt, wird er nicht zum Abend­mahl zuge­las­sen, wo vor sich die Kin­der der­art fürch­ten, dass sie alles dar­an set­zen, Got­tes Gebo­te zu ken­nen und zu erfül­len. (…) Jeder hat dort einen Kate­chis­mus, ein Gebet­buch und eine Bibel.

(Wer­ke, Bd. 6, Moskau/Leningrad 1952)

Hol­ger Kuße

 

Michael Wassiljewitsch Lomonossows Aufenthaltsorte in Marburg

Wil­helm A. Eckardt hat das Ver­dienst, in sei­nen bei­den Bei­trä­gen Chris­ti­an Wolff und die hes­si­schen Uni­ver­si­tä­ten (Mar­burg o.J.) und Lomo­nossow in Mar­burg (Mit­tei­lun­gen des Hes­si­schen Geschichts­ver­eins 1991 Neue Fol­ge Nr. 22) den Auf­ent­halts­or­ten des rus­si­schen Uni­ver­sal­ge­lehr­ten in Mar­burg nach­ge­gan­gen zu sein. Er kommt dabei zu fol­gen­dem Ergebnis:

Am 17. Novem­ber 1736 wur­de Lomo­nossow in Mar­burg imma­tri­ku­liert. Sein älte­rer Freund und spä­te­rer Peters­bur­ger Kol­le­ge Pro­fes­sor Jakob von Stäh­lin (1709–1785) berich­tet, Lomo­nossow habe bei der Wit­we des Mar­bur­ger Bür­gers Hein­rich Zielch und deren Kin­dern gewohnt. Hein­rich Zielch war ein ziem­lich wohl­ha­ben­der Mar­bur­ger Bier­brau­er und war bereits drei Jah­re tot, als Lomo­nossow nach Mar­burg kam. Einer Toch­ter der Wit­we Zielch, Eli­sa­beth Chris­ti­ne, wur­de 1739 eine unehe­li­che Toch­ter Katha­ri­na Eli­sa­beth gebo­ren, die Lomo­nossow durch spä­te­re Hei­rat legi­ti­mier­te. Doch wo ist die Stu­den­ten­woh­nung Lomo­nossows bei der Wit­we Zielch gewesen?

Man hat lan­ge Zeit ange­nom­men, dass es das statt­li­che Haus Bar­fü­ßer­stra­ße 47 (Haus Arcu­la­ri­us) gewe­sen sein müs­se, wo 1772 ein Akzi­se­schrei­ber Leut­nant Johan­nes Zielch als Bewoh­ner genannt wur­de. Ihn hat Kurt Stahr in sei­nem Mar­bur­ger Sip­pen­buch (Bd. 23 Nr. 37732 und 37735) mit dem Bru­der der Eli­sa­beth Chris­ti­ne Lomo­nossow geb. Zielch iden­ti­fi­ziert. Doch der Akzi­se­schrei­ber starb in Mar­burg am 25. Juli 1784 im Alter von 64 Jah­ren. Er muss also im Jah­re 1720 gebo­ren sein. Doch Lomo­nossows Schwa­ger, der Bru­der Eli­sa­beths Chris­ti­nes geb. Zielch, ist bereits am 21. Okto­ber 1714 gebo­ren wor­den. Außer­dem stammt der Leut­nant und Regi­ments­quar­tier­meis­ter im Husa­ren­corps Johan­nes Zielch nach den Anci­e­ni­täts­lis­ten von 1764 nicht aus Mar­burg, son­dern ist ein Schul­meis­ter­sohn aus Mühl­bach. So kommt das Haus Arcu­la­ri­us an der Bar­fü­ßer­stra­ße als Stu­den­ten­woh­nung Lomo­nossows nicht in Frage.

Das Ver­zeich­nis der Mar­bur­ger Bür­ger und Bei­sas­sen (Mie­ter), das um das Jahr 1720 ange­legt wur­de und sich im Stadt­ar­chiv befin­det, nennt für das heu­ti­ge Anwe­sen Bar­fü­ßer­stra­ße 35 als Haus­be­sit­zer einen Regis­tra­tor Abel und als Bei­sas­sen in sei­nem Hin­ter­haus Wen­del­gas­se 2 Hein­rich Zielch, des­sen Schwä­ge­rin Maria Segel­in, sowie Ser­g­an­tin Rezin und einen Andre­as Jung. Von 1726–1729 zahl­te Öko­nom Abel Grund­steu­ern für sei­ne Anwe­sen an der Bar­fü­ßer­stra­ße, in der Wen­del­gas­se, am Rüben­stein und in der Krebs­gas­se. Sei­ne Wit­we setz­te die Zah­lun­gen von 1730 bis 1744 fort, von 1745 bis 1765 war es der Öko­nom Schef­fer, von 1766 für ein Jahr die Wit­we Schef­fer, von 1767 bis 1772 war es Ober­vogt Schmidt, wäh­rend das Num­mern­buch von 1770/71 für das Anwe­sen Wen­del­gas­se 2 immer noch 1776 Schef­fer als Eigen­tü­mer nennt.

Das Haus Wen­del­gas­se 2 mit Gedenk­ta­fel heu­te (Fotos: Wikipedia)

1741 ist Lomo­nossow nach Russ­land zurück­ge­ru­fen wor­den. Er hat­te am 6. Juni 1740 Eli­sa­beth Chris­ti­ne Zielch gehei­ra­tet. Die jun­ge Ehe­frau blieb mit ihrem Bru­der Johann in Mar­burg bis zum Tode ihrer Mut­ter Katha­ri­na Eli­sa­beth Zielch. Nach den Mar­bur­ger Käm­me­rei­rech­nun­gen hat die Wit­we Hein­rich Zielchs bis 1745 ½ Pfund Bür­ger­schil­ling gezahlt, 1747 und 1748 taten es ihre Kin­der, danach sind kei­ne Zah­lun­gen mehr ver­merkt. Frau Eli­sa­beth Lomo­nossow und ihr Bru­der Johan­nes Zielch müs­sen also 1748 Mar­burg ver­las­sen haben. Eine Ein­tra­gung des Todes von Wit­we Katha­ri­na Zielch fin­det sich in den Mar­bur­ger Ster­be­re­gis­tern nicht.

Lomo­nossow hat in Mar­burg im Hau­se sei­nes Leh­rers Chris­ti­an Wolff ver­kehrt, dort Vor­le­sun­gen gehört und ist dort zu Mit­tag ver­kös­tigt wor­den. Eine Mar­mor­ta­fel am reprä­sen­ta­ti­ven Eck­haus Markt­gas­se 17 weist aus: Chris­ti­an Wolff / Prof. d. Phi­los. / 1723–1740. Zur 350-Jahr­fei­er der Uni­ver­si­tät hat das Jubi­lä­ums­ko­mi­tee beschlos­sen, Gedenk­ta­feln an die Wohn­häu­ser berühm­ter Ver­tre­ter der Uni­ver­si­tät anbrin­gen zu las­sen. Der Alt­phi­lo­lo­ge und Lei­ter der Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek Juli­us Cae­sar wur­de mit der Durch­füh­rung der Akti­on betraut, aber in den Akten fin­det sich kei­ne Begrün­dung, war­um Markt­gas­se 17 Wolffs Woh­nung gewe­sen sein soll.

Dabei ist die Besitz­ge­schich­te des Anwe­sens Markt­gas­se 17 gut bekannt. Am 19. April 1692 kauf­te Bern­hard Wil­helm Rie­men­schnei­der (1671–1709) das Haus von den Erben des Pro­fes­sors Dr. jur. Her­mann Vul­te­jus für 13.000 Reichs­ta­ler. Die Gedenk­ta­fel für Vul­te­jus befin­det sich eben­falls an dem Haus. Nach sei­nem Tod kam das Haus in den Besitz sei­ner Wit­we und dann sei­nes Soh­nes Hein­rich Anton Rie­men­schnei­der (1699–1772). Hier kann Wolff mit Sicher­heit nicht gewohnt haben, denn 1730 bat der Kas­se­ler Regie­rungs­prä­si­dent Johann Kas­par von Dörn­berg Pro­fes­sor Wolff, sei­nen Sohn bei sich auf­zu­neh­men. Doch Wolff ant­wor­te­te am 4. Mai, dass er den jun­gen Herrn ger­ne in sei­ne Tisch­ge­mein­schaft auf­neh­me, aber in sei­nem Hau­se kön­ne er ihn wegen Platz­man­gel nicht unter­brin­gen. Er wol­le sich aber um ein Quar­tier bemü­hen. Am 21. Mai 1730 konn­te er ver­mel­den, dass der jun­ge Herr von Dörn­berg und sein Hof­meis­ter bey dem jun­gen Riem­schnei­der in Marckt-Stra­ße unter­kom­men könnte.

Vom 14. bis 17. Sep­tem­ber 1731 besuch­te Land­graf Fried­rich I. von Hes­sen-Kas­sel, gleich­zei­tig König von Schwe­den, die Uni­ver­si­täts­stadt Mar­burg. Die Stadt wur­de zu die­sem Anlass fest­lich illu­mi­niert. Die Fei­er­lich­kei­ten und damit auch die fest­li­che Beleuch­tung der Stadt sind in der Bro­schü­re Aus­führ­lich Beschrei­bung der Solem­ni­tä­ten bey höchst beglück­ter Ankunfft Sr. König­li­chen Majes­tät in Schwe­den nach Mar­burg. Mar­burg 1731 genau geschil­dert. Dar­in ist beson­ders die Illu­mi­na­ti­on von Wolffs Haus her­vor­ge­ho­ben. An der Haupt­front des Hau­ses gegen das Schloss hin befand sich eine Inschrift mit gold­gel­ben Buch­sta­ben auf rotem Grund, das die gan­ze Illu­mi­na­ti­on erklärt, ein­ge­rahmt von sie­ben bild­li­chen Dar­stel­lun­gen. In Rich­tung Markt waren die Weis­heit und Lie­be bild­lich dar­ge­stellt. Die Front zum Markt hin war offen­bar schma­ler als die gegen das Schloss. Im Sei­ten­ge­bäu­de, so heißt es wei­ter, hät­ten die bei­den klei­nen Söh­ne Wolffs Fer­di­nand und Chris­ti­an Trans­pa­ren­te mit Bil­dern aus der Mytho­lo­gie hin­ter den Glas­schei­ben ihrer Stu­ben­fens­ter ange­bracht, die von Fach­leu­ten mit Öl durch­sich­tig gemacht, wie Trans­pa­ren­te gegen das Licht wirken.

Das Haus Markt­gas­se 17 hat kei­ne Front hin zum Schloss und hin zum Markt. Als Wohn­haus von Pro­fes­sor Wolff galt auch lan­ge Zeit das gro­ße Haus Markt 22 am Obermarkt/Ecke Rit­ter­stra­ße, das 1737 dem Rats­schöf­fen und Pas­te­ten­bä­cker Kon­rad Geiß­ler gehör­te. Doch die­ses Haus hat kei­ne Sei­ten­ge­bäu­de. Kon­rad Geiß­ler hat 1739 vier Albus Zins zah­len müs­sen von Her­aus­rü­ckung der Mau­er unter sei­nem neun Hauß. Hät­te Wolff dort gewohnt, wäre wohl kein neu­es Gebäu­de errich­tet worden.

In den Gebäu­den Markt 23 (Bild­mit­te rechts) und Markt 24 (links) wohn­te ver­mut­lich Pro­fes­sor Chris­ti­an Wolff. Das ver­wahr­los­te Neben­ge­bäu­de wur­de 1957 abge­ris­sen. (Foto: Küch/Niemeyer, Die Bau- und Kunst­denk­mä­ler im Regie­rungs­be­zirk Kas­sel, Band 8. Kas­sel 1934)

Die rich­ti­ge Lage mit vier Fens­tern je Stock­werk in der Haupt­front in Rich­tung Schloss­trep­pe und zwei Fens­tern je Stock­werk im vor­sprin­gen­den Teil in Rich­tung Markt hat das Anwe­sen Markt 23, das heu­te die Brü­der-Grimm-Stu­ben beher­bergt, Das Nach­bar­haus Markt 24 gehör­te zu Wolffs Zei­ten als Neben­ge­bäu­de dazu. Es wur­de 1957 abge­bro­chen. Unter die­sem Haus hat man vor Jah­ren die Grund­mau­ern der mit­tel­al­ter­li­chen Syn­ago­ge ent­deckt und der Öffent­lich­keit unter einem Glas­wür­fel zugäng­lich gemacht.

Zu Wolffs Zei­ten gehör­ten bei­de Häu­ser Ober­leut­nant Bene­dict v. Düring. Der hat­te in das Gut Frie­del­hau­sen bei Gie­ßen ein­ge­hei­ra­tet und wohn­te auch dort mit sei­ner Fami­lie. So stan­den sei­ne Mar­bur­ger Häu­ser leer und konn­ten ver­mie­tet wer­den. Dort dürf­te Pro­fes­sor Chris­ti­an Wolff zur Mie­te gewohnt haben, und dort wird auch Micha­el Was­sil­je­witsch Lomo­nossow ein- und aus­ge­gan­gen sein.

Fried­rich Dickmann

 

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